Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/218

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Genitiv pluralis unterordnen und dabei das dem Gezählten entgegengesetzte Geschlecht besitzen[1]. In der indogermanischen Ursprache waren nach dem übereinstimmenden Zeugnis des Indo-Iranischen, des Baltisch-Slawischen und des Griechischen die Zahlworte von 1 bis 4 flektiert, während die Zahlworte von 5 bis 19 durch unflektierte Eigenschaftsworte, die darüber hinausgehenden Zahlen durch Substantiva mit dem Genitiv des Gezählten gebildet wurden[2]. Auch eine grammatische Form, wie die des Duals haftet weit länger an den persönlichen Fürwörtern, als sie sich bei anderen Wortklassen erhält. Am deutschen Pronomen der ersten und zweiten Person erhält sich der Dual, der sonst in der ganzen Deklination untergeht, noch geraume Zeit[3]; ebenso ist in der Entwicklung der slawischen Sprachen der „objektive“ Dual weit früher als der „subjektive“ verloren gegangen[4]. Auch der etymologische Ursprung der ersten Zahlwörter scheint in vielen Sprachen noch auf diesen Zusammenhang mit den Grundworten, die für die Unterscheidung der drei Personen ausgebildet waren, hinzudeuten: insbesondere scheint für das Indogermanische eine gemeinsame etymologische Wurzel des Ausdrucks für „Du“ und des Ausdrucks für „Zwei“ erwiesen[5]. Scherer beruft sich auf diesen Zusammenhang, um daraus zu folgern, daß wir hier an einem gemeinsamen sprachlichen Ursprungsort der Psychologie, der Grammatik und der Mathematik stünden; daß hier die Wurzel der Zweiheit bis zu jenem Urdualismus zurückführe, der aller Möglichkeit des Sprechens und des Denkens zugrunde liegt[6]. Denn die Möglichkeit des Sprechens werde nach Humboldt durch Anrede und Erwiderung bedingt, beruhe also auf einer Spannung und einer Spaltung, die sich zwischen dem Ich und Du herstellt, um sich sodann in eben dem Akt des Sprechens wieder auszugleichen, so daß dieser Akt als die eigentliche und wahrhafte „Vermittlung zwischen Denkkraft und Denkkraft“ erscheine.


  1. [1] Vgl. Brockelmann, Grundriß I, 484 ff., II, 273 ff.
  2. [2] Vgl. Meillet, Einf. in die vgl. Grammat. der indogerm. Sprachen, S. 252 ff; Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 369 ff.
  3. [3] Von den deutschen Dialekten haben das Westfälische und das Bayerisch-Österreichische bekanntlich noch heute diesen Gebrauch des Duals in Resten bewahrt; näheres z. B. bei Jakob Grimm, Deutsche Grammatik I, 339 ff.
  4. [4] Miklosich, Vergl. Grammat. der slaw. Sprachen IV, 40; über ganz analoge Erscheinungen im Gebiet der finnisch-ugrischen Sprachen s. z. B. Szinnyei, Finnisch-ugrische Sprachwissenschaft, Lpz. 1910, S. 60.
  5. [5] Vgl. über diese Frage Benfey, Das indogermanische Thema des Zahlworts ‚zwei‘ ist du, Göttingen 1876; daß das urindg. *duu̯ō „letztlich wohl auf personale Anschauung zurückgehe“ nimmt auch Brugmann, Grundriß II, 2, 8 ff., an.
  6. [6] Scherer, Zur Gesch. der deutschen Sprache, S. 308 ff., 355.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/218&oldid=- (Version vom 21.11.2022)