ist, nach Humboldt, die sogen. „Passivbildung“ eigentlich die Umsetzung in eine Nominalform: ein eigentliches Passiv gibt es nicht, weil das Verbum selbst nicht als Aktivum gedacht ist, sondern mehr nominalen Charakter hat. Der Bezeichnung des Vorgangs haftet hier zunächst weder die Beziehung auf einen Tätigen, noch die auf einen Leidenden an: das Verbum konstatiert einfach den Eintritt des Vorgangs selbst, ohne ihn ausdrücklich an die Energie eines Subjekts zu knüpfen oder die Beziehung zu dem Objekt, das von ihm betroffen wird, in der Verbalform selbst kenntlich zu machen[1].
Aber daß diese mangelnde Entwicklung des abstrakten Gegensatzes von Tun und Leiden nicht etwa darin ihren Grund hat, daß hier die konkrete Anschauung des Tuns selber und seiner Nuancierungen noch fehlt: das zeigt sich auf der anderen Seite darin, daß eben diese Anschauung oft in überraschender Vielseitigkeit in den gleichen Sprachen, denen die formelle Unterscheidung des Aktivum und Passivum fehlt, ausgebildet sein kann. Die „Genera“ des Verbs sind hier häufig nicht nur einzeln aufs schärfste bestimmt, sondern sie können einander auch in der mannigfaltigsten Weise überdecken und sich zu immer komplexeren Ausdrücken zusammenschließen. An der Spitze stehen hier zunächst jene Formen, die einen Zeitcharakter an der Handlung bezeichnen – wobei es sich jedoch, nach dem Früheren, nicht sowohl um den Ausdruck ihrer relativen Zeitstufe, als vielmehr um den Ausdruck der Aktionsart handelt. Es tritt eine scharfe Trennung der „perfektiven“ und „imperfektiven“, der „momentanen“ oder „kursiven“, der einmaligen oder iterativen Aktionsart ein: es wird unterschieden, ob die Handlung in dem Moment des Sprechens als eine vollendete und abgeschlossene vorliegt oder ob sie noch in der Entwicklung begriffen ist, ob sie auf einen bestimmten Augenblick
aus afrikanischen Sprachen bei Westermann, Sudansprachen, S. 70, Migeod, Mende Language, S. 82. Zum Ersatz des fehlenden Passivum dienen oft auch impersonale Wendungen oder Formen aktiver Prägung, denen aber eine passive Bedeutungsnuance innewohnt. Ein Satz wie „er wird geschlagen“ kann etwa durch Ausdrücke wie ‚er empfängt oder erträgt das Schlagen‘ oder, ganz materiell, durch ‚er ißt Schläge‘ wiedergegeben werden. (Beispiele bei Fr. Müller, Novara-Reise, S. 98.) Das Japanische bildet mittels eines Hilfsverbums, dessen Grundbedeutung ‚bekommen, sich zueignen‘ ist, abgeleitete Verba, die das Sich-Zueignen einer von außen kommenden Wirkung bezeichnen und in diesem Sinne als Verba passiva gebraucht werden können (Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 242). Auch im Chinesischen ist die Bildung des „Passivs“ durch solche Hilfszeitwörter wie ‚sehen, finden, empfangen‘ (z. B. Haß sehen für ‚gehaßt werden‘) häufig, vgl. G. v. d. Gabelentz, Chines. Grammat., S. 113, 428 f.
- ↑ [1] Humboldt, Kawi-Werk II, 80, 85, vgl. die Parallelen aus australischen Sprachen bei Fr. Müller, Novara-Reise, S. 254 f. S. auch Codrington, a. a. O., S. 192.
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/231&oldid=- (Version vom 19.12.2022)