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tritt, und wenn damit der Ausgangspunkt der Handlung und ihr Zielpunkt, nachdem sie sich getrennt haben, inhaltlich wieder in einen Punkt zusammenfallen. Dies ist der Charakter der reflexiven Handlung, in welcher das Ich nicht sowohl ein anderes oder einen anderen, als vielmehr sich selbst bestimmt, – in der es sein Tun auf sich selber zurücklenkt. In vielen Sprachen ist es eben diese Reflexivbildung, die das mangelnde Passivum ersetzt[1]. Am reinsten tritt diese Hinweisung und Rücklenkung der Handlung auf das Ich und das energische Bewußtsein der Subjektivität, das sich darin bekundet, in dem Gebrauch hervor, den die griechische Sprache von den medialen Verbalformen macht. Nicht mit Unrecht hat man in dem Besitz und in der Verwendung des Mediums einen wesentlichen und auszeichnenden Charakter der griechischen Sprache gesehen – einen solchen, der sie zur echt „philosophischen“ Sprache stempelt[2]. Die indischen Grammatiker haben für den Unterschied der aktiven und der medialen Verbalform einen bezeichnenden Ausdruck geschaffen, indem sie die erstere „ein Wort für einen andern“, die letztere ‚ein Wort für sich selbst‘ nennen[3]. In der Tat ist es die Grundbedeutung des Mediums, daß es den Vorgang als in der eigenen Sphäre des Subjekts liegend betrachtet und die innere Beteiligung des Subjekts an ihm betont. „Bei jedem einfachen Aktivum“ – sagt Jakob Grimm – „bleibt es an sich zweifelhaft, ob der intransitive oder transitive Begriff in ihm herrsche, z. B. ‚ich sehe‘ kann beides heißen sollen: ich sehe mit meinen Augen, oder ich sehe irgend etwas an; κλαίω beides, entweder das innere Weinen selbst, oder das Beweinen eines anderen. Das Medium hebt diesen Zweifel und bezieht den Sinn notwendig auf das Subjekt des Satzes, z. B. κλαίομαι (ich weine um mich, für mich) … Das wahre und eigentliche Medium ist überhaupt zur Bezeichnung dessen, was lebendig in der inneren Seele und an dem Leib vorgeht, geschaffen, daher ihm in allen Sprachen, nach ihrer wundervollen Einstimmung, Begriffe wie: freuen, trauern, wundern, fürchten, hoffen, weilen, ruhen, sprechen, kleiden, waschen und ähnliche zustehen[4].“ Überblickt man jetzt die Mannigfaltigkeit


  1. [1] So im semitischen Sprachkreis im Äthiopischen (Dillmann, S. 115, 123) u. im Syrischen (Nöldeke, Syr. Grammat., S. 95 ff.); auch im Türkischen tritt (nach Aug. Müller, Türk. Grammat., S. 76) für das Passiv häufig das Reflexiv ein.
  2. [2] Vgl. J. Stenzel, Über den Einfluß der griechischen Sprache auf die philosophische Begriffsbildung, Neue Jahrbücher f. d. klass. Altertum (1921), S. 152 ff.
  3. [3] Das Medium als Âtmanepadam bei Pânini I, 3, 72–74; als ein besonderes „Genus verbi“ erscheint bei den europäischen Grammatikern das Medium erst bei Dionysius Thrax, vgl. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft, S. 73 u. 144.
  4. [4] J. Grimm, Deutsche Grammat., I, 598 f.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/235&oldid=- (Version vom 7.1.2023)