Weg, den die besonderen Wissenschaften im Einzelnen beschreiten, im Ganzen verfolgen und im Ganzen überblicken. Sie muß die Frage stellen, ob die intellektuellen Symbole, unter denen die besonderen Disziplinen die Wirklichkeit betrachten und beschreiben, als ein einfaches Nebeneinander zu denken sind, oder ob sie sich als verschiedene Äußerungen ein und derselben geistigen Grundfunktion verstehen lassen. Und wenn diese letztere Voraussetzung sich bewähren sollte, so entsteht weiter die Aufgabe, die allgemeinen Bedingungen dieser Funktion aufzustellen und das Prinzip, von dem sie beherrscht wird, klarzulegen. Statt mit der dogmatischen Metaphysik nach der absoluten Einheit der Substanz zu fragen, in die alles besondere Dasein zurückgehen soll, wird jetzt nach einer Regel gefragt, die die konkrete Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Erkenntnisfunktionen beherrscht und die sie, ohne sie aufzuheben und zu zerstören, zu einem einheitlichen Tun, zu einer in sich geschlossenen geistigen Aktion zusammenfaßt. –
Aber noch einmal weitet sich an dieser Stelle der Blick, sobald man erwägt, daß die Erkenntnis, so universell und umfassend ihr Begriff auch genommen werden mag, doch im Ganzen der geistigen Erfassung und Deutung des Seins, immer nur eine einzelne Art der Formgebung darstellt. Sie ist eine Gestaltung des Mannigfaltigen, die von einem spezifischen, damit aber zugleich von einem in sich selbst klar und scharf begrenzten Prinzip geleitet wird. Alle Erkenntnis geht zuletzt, so verschieden auch ihre Wege und Wegrichtungen sein mögen, darauf aus, die Vielheit der Erscheinungen der Einheit des „Satzes vom Grunde“ zu unterwerfen. Das Einzelne soll nicht als einzelnes stehen bleiben, sondern es soll sich einem Zusammenhang einreihen, in dem es als Glied eines sei es logischen, sei es teleologischen oder kausalen „Gefüges“ erscheint. Auf dieses wesentliche Ziel: auf die Einfügung des Besonderen in eine universelle Gesetzes- und Ordnungsform bleibt die Erkenntnis wesentlich gerichtet. Aber neben dieser Form der intellektuellen Synthesis, die sich im System der wissenschaftlichen Begriffe darstellt und auswirkt, stehen im Ganzen des geistigen Lebens andere Gestaltungsweisen. Auch sie lassen sich als gewisse Weisen der „Objektivierung“ bezeichnen: d. h. als Mittel, ein Individuelles zu einem Allgemeingültigen zu erheben; aber sie erreichen dieses Ziel der Allgemeingültigkeit auf einem völlig anderen Wege als auf dem des logischen Begriffs und des logischen Gesetzes. Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhandenes
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/24&oldid=- (Version vom 4.8.2020)