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überzugehen. Denn wie für sie die personale Sphäre erst allmählich aus der possessiven herauswächst, wie sie die Anschauung der Person an die des objektiven Besitzes anheftet, so muß die Mannigfaltigkeit, die im bloßen Besitzverhältnis liegt, auch auf den Ausdruck der Ichbeziehung zurückwirken. In der Tat gehört mein Arm, der mit dem Ganzen meines Leibes organisch verbunden ist, mir auf ganz andere Art an, als mir meine Waffe oder mein Werkzeug angehört – meine Eltern, mein Kind sind mir auf ganz andere, natürlichere und unmittelbarere Art verbunden, als mein Pferd oder mein Hund – und auch im Gebiet des bloßen Sachbesitzes besteht noch ein deutlich fühlbarer Unterschied zwischen der beweglichen und der unbeweglichen Habe des Individuums. Das Haus, in dem es wohnt, „gehört“ zu ihm in einem anderen und festeren Sinne, als etwa der Rock, den es trägt. Allen diesen Differenzen wird sich die Sprache zunächst anschmiegen: statt eines einheitlichen und allgemeinen Ausdrucks des Besitzverhältnisses wird sie daher so viel verschiedene Ausdrücke für dasselbe zu entwickeln suchen, als es deutlich geschiedene Klassen konkreter Zugehörigkeit gibt. Es ergibt sich hier dieselbe Erscheinung, die wir in der Entstehung und der allmählichen Ausbildung der Zahlworte verfolgen konnten. Wie die verschiedenen Objekte und Objektgruppen ursprünglich verschiedene „Zahlen“ haben – so haben sie auch ein verschiedenes „Mein und Dein“. Den „Numeralsubstantiven“ mancher Sprachen, die bei der Zählung verschiedener Gegenstände zur Verwendung kommen, steht daher eine ganz analoge Mannigfaltigkeit der „Possessiv-Substantiva“ zur Seite. In den melanesischen und in vielen polynesischen Sprachen wird, um das Besitzverhältnis wiederzugeben, der Bezeichnung des besessenen Gegenstandes ein Possessivsuffix angefügt, das aber je nach der Klasse, zu der der Gegenstand gehört, wechselt. Ursprünglich sind alle diese mannigfachen Ausdrücke des Besitzverhältnisses Nomina, was sich formell noch darin deutlich bekundet, daß ihnen Präpositionen vorangehen können. Diese Nomina sind derart abgestuft, daß sie verschiedene Arten der Habe, des Besitzes, der Zugehörigkeit u. s. f. unterscheiden. Ein derartiges Possessiv-Nomen wird z. B. den Verwandtschaftsnamen, den Gliedmaßen des menschlichen Körpers, den Teilen eines Dinges, ein anderes den Dingen, die man besitzt, oder den Werkzeugen, von denen man Gebrauch macht, hinzugefügt – eines gilt für alle Dinge, die zum Essen, ein anderes für solche, die zum Trinken bestimmt sind[1]. Häufig wird ein verschiedener Ausdruck


  1. [1] Vgl. hrz. Ray, The Melanesian Possessives, American Anthropologist, XXI (1919), S. 349 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/241&oldid=- (Version vom 8.1.2023)