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müsse daher den Substanzbezeichnungen, den sprachlichen „Substantiven“ notwendig vorangegangen sein[1].

Aber gerade diese μετάβασις εἰς ἄλλο γένος, diese überraschende Wendung ins Metaphysische, läßt die methodische Schwäche der Problemstellung, die hier zugrunde liegt, klar erkennen. Auf der einen Seite ruht die gesamte Beweisführung auf einer unverkennbaren quaternio terminorum: der Begriff der Substanz, der hier als Mittelbegriff des Schlusses gebraucht wird, tritt in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen auf, indem er das eine Mal im metaphysischen, das andere Mal im empirischen Sinne genommen wird. Der Vordersatz des Schlusses spricht von der Substanz als dem metaphysischen Subjekt der Veränderungen und Eigenschaften, als dem „Ding an sich“, das „hinter“ allen Qualitäten und Akzidenzen liegt – der Schlußsatz spricht von den Nominalbegriffen der Sprache, die, sofern sie zum Ausdruck von Gegenständen dienen, diese natürlich nicht anders denn als „Gegenstände in der Erscheinung“ nehmen können. Die Substanz im ersteren Sinne ist der Ausdruck einer absoluten Wesenheit, die im zweiten Sinne dagegen stets nur der Ausdruck einer relativen, einer empirischen Beharrlichkeit. Wird aber das Problem in diesem letzteren Sinne gefaßt, so verliert der Schluß, der hier gezogen ist, soweit er sich auf erkenntniskritische Gründe stützt, alle Beweiskraft. Denn die Erkenntniskritik lehrt keineswegs, daß der Gedanke der veränderlichen Eigenschaft oder des veränderlichen Zustandes notwendig früher als der des „Dinges“, als einer relativ beharrlichen Einheit, sei: sie zeigt vielmehr, daß sowohl der Begriff des Dinges, wie der der Eigenschaft oder des Zustandes gleich berechtigte und gleich notwendige Bedingungen im Aufbau der Erfahrungswelt sind. Sie unterscheiden sich nicht als Ausdrücke gegebener Wirklichkeiten und gemäß der Ordnung, in der diese Wirklichkeiten, sei es an sich, sei es mit Bezug auf unsere Erkenntnis, aufeinander folgen – sondern als Formen der Auffassung, als Kategorien, die einander wechselseitig bedingen. Der Gesichtspunkt der Beharrung, der Gesichtspunkt des „Dinges“ ist in diesem Sinne weder vor dem der Veränderung noch nach ihm, sondern schlechterdings nur mit ihm, als sein korrelatives Moment, gegeben. Und diese Betrachtungsweise gilt nun auch in umgekehrter Richtung: sie wendet sich nicht minder als gegen die behauptete notwendige Ursprünglichkeit des Verbums und der Verbalbegriffe, auch gegen die psychologischen Beweisgründe, mit denen man statt dessen vielmehr den Primat der rein gegenständlichen


  1. [1] S. Raoul de la Grasserie, Du Verbe comme générateur des autres parties du discours (du Phénomène au Noumène), Paris 1914.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/246&oldid=- (Version vom 19.1.2023)