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und verbalen Ausdruck so weit verwischt würden, daß man hier gleichsam ein Gefühl der Abwesenheit des Verbums habe. Ebenso betont er z. B. für eine Sprache, wie das Barmanische, daß sie aller formalen Bezeichnungen für die Verbalfunktion völlig ermangele, so daß in den Sprechenden selbst offenbar keinerlei lebendiges Durchdringen des Gefühls der wahren Kraft des Verbums vorhanden sei[1]. Was hier noch als eine Art Anomalie der Sprachbildung betrachtet zu werden scheint, – das hat sodann die weitere Ausdehnung der Sprachvergleichung als eine allgemein verbreitete Erscheinung aufgewiesen. Immer wieder begegnet statt der scharfen Trennung des Verbums vom Nomen eine mittlere, eine gleichsam amorphe Form[2]. Dies tritt auch darin deutlich zutage, daß die Grenzen der grammatisch-formellen Behandlung der Ding- und Tätigkeitsausdrücke sich erst ganz allmählich gegeneinander abscheiden. „Konjugation“ und „Deklination“ fließen in ihrer sprachlichen Gestaltung zunächst noch vielfach ineinander über. Überall dort, wo die Sprache den Typus der „possessiven Konjugation“ befolgt, ist schon dadurch ein völliger Parallelismus zwischen dem nominalen und dem verbalen Ausdruck gegeben[3]. Ähnliche Beziehungen finden sich zwischen den Tätigkeits- und den Eigenschaftsbezeichnungen: ein und dasselbe System der Abwandlung kann ebenso wie die Verba auch die Adjektiva umfassen[4]. Selbst komplexe


  1. [1] Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk VII, 1, 222, 280 ff., 305; vgl. bes. das Kawi-Werk selbst II, 81, 129 ff., 287.
  2. [2] Beispiele s. etwa in Fr. Müller’s Grundriß: aus dem Hottentottischen I, 2, 12 ff., den Mande-Sprachen I, 2, 142, dem Samojedischen II, 2, 174, dem Jenissei-Ostjakischen II, 1, 115.
  3. [3] S. oben S. 222.
  4. [4] Vielfältige Beispiele dieser „adjektivischen Konjugation“ s. bei de la Grasserie, a. a. O. S. 32 ff. – Die malayische Sprache erlaubt jedes Wort ohne Ausnahme durch einen Zusatz in ein Verbum zu verwandeln; umgekehrt kann hier jeder Verbalausdruck durch bloße Vorsetzung des bestimmten Artikels als ein Nomen behandelt werden (Humboldt, Kawi-Werk, II, 81, 348 ff.). Im Koptischen trägt das Verbum in seiner Infinitivform sogar den Geschlechtscharakter der substantivischen Hauptwörter an sich: der Infinitiv ist ein Nomen und kann seiner Form nach männlich oder weiblich sein. Diesem seinem nominalen Charakter entsprechend regiert er ursprünglich auch kein Objekt, sondern einen Genitiv, der wie beim Substantivum unmittelbar an das Nomen regens herantritt. (S. Steindorff, Koptische Grammatik, S. 91 f.) Im Jenissei-Ostjakischen, sowie in den Dravida-Sprachen lassen die Verbalformen eine Bekleidung mit Kasus-Suffixen zu und werden demgemäß „dekliniert“ – wie andererseits in manchen Sprachen das Nomen mit einem bestimmten Temporalzeichen versehen und somit „konjugiert“ werden kann. (Vgl. Fr. Müllers Grundriß II, 1, 115, 180 f., III, 1, 198.) In der Sprache von Annatom wird – nach G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissensch., S. 160 f. – nicht das Verbum, sondern das Pronomen personale konjugiert. Dies eröffnet den Satz, zeigt [235] an, ob von der ersten, der zweiten oder einer dritten Person Singularis, Dualis, Trialis oder Pluralis die Rede ist, ob es sich um ein Gegenwärtiges, Vergangenes oder Zukünftiges, Gewolltes usw. handele.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/250&oldid=- (Version vom 19.1.2023)