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ein Reich belebter handelnder Wesen. Die Spiegelung nicht einer objektiven Umwelt, sondern die des eigenen Lebens und des eigenen Tuns ist es in der Tat, wodurch das Weltbild der Sprache, wie das primitive mythische Bild der Natur, in seinen eigentlichen Grund- und Wesenszügen bestimmt wird. Indem der Wille und das Tun des Menschen sich auf einen Punkt richten, indem das Bewußtsein sich auf ihn spannt und konzentriert, wird er damit für den Prozeß der Bezeichnung gleichsam erst reif. Im Strom des Bewußtseins, der sonst gleichförmig abzulaufen schien, entstehen nunmehr Wellenberge und Wellentäler: es bilden sich einzelne dynamisch-betonte Inhalte, um die sich die übrigen gruppieren. Und damit ist erst der Boden für jene Zuordnungen bereitet, auf denen die Gewinnung irgendwelcher sprachlich-logischer „Merkmale“ und auf denen die Zusammenfassung zu bestimmten Merkmalsgruppen beruht, ist erst die Grundlage gegeben, auf welcher die qualifizierende sprachliche Begriffsbildung sich aufbauen kann.

Schon in dem Übergang von den bloßen sinnlichen Erregungslauten zum Ruf bekundet sich diese allgemeine Richtung der Sprachbildung. Der Ruf kann, z. B. als Angst- oder Schmerzruf, noch ganz dem Kreise der bloßen Interjektion angehören; aber er bedeutet bereits mehr als dies, sobald sich in ihm nicht nur ein eben empfangener sinnlicher Eindruck im unmittelbaren Reflex nach außen wendet, sondern sobald er der Ausdruck einer bestimmten und bewußten Zielrichtung des Willens ist. Denn das Bewußtsein steht alsdann nicht mehr im Zeichen der bloßen Reproduktion, sondern im Zeichen der Antizipation: es verharrt nicht im Gegebenen und Gegenwärtigen, sondern greift auf die Vorstellung eines Künftigen über. Demgemäß begleitet jetzt der Laut nicht nur einen vorhandenen inneren Gefühls- und Erregungszustand, sondern er wirkt selbst als ein Motiv, das in das Geschehen eingreift. Die Veränderungen dieses Geschehens werden nicht lediglich bezeichnet, sondern im eigentlichen Sinne „hervorgerufen“. Indem der Laut in dieser Weise als Organ des Willens wirkt, ist er aus dem Stadium der bloßen „Nachahmung“ ein für allemal herausgetreten. In der Entwicklung des Kindes läßt sich schon in der Epoche, die der eigentlichen Sprachbildung vorangeht, beobachten, wie der Charakter des kindlichen Schreies allmählich mehr und mehr in den des Rufes übergeht. Indem der Schrei sich in sich selbst differenziert, indem besondere, wenngleich noch unartikulierte lautliche Äußerungen für verschiedene Affekte und für verschiedene Richtungen des Verlangens eintreten, wird dadurch der Laut auf bestimmte Inhalte, im Unterschied von anderen, gleichsam hingelenkt und damit die erste

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/269&oldid=- (Version vom 10.2.2023)