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sich ein für allemal in ein fertiges abstraktes Schema einfangen und durch dasselbe bezeichnen läßt – so heben sich doch auch hier in der Vergleichung der besonderen Phänomene gewisse allgemeine Gesichtspunkte heraus, nach denen die Sprache in ihren Klassifikationen und Zuordnungen verfährt. Man kann versuchen, diese Gesichtspunkte derart zu ordnen, daß man dabei jenen ständigen Fortgang vom „Konkreten“ zum „Abstrakten“, der die Richtung der Sprachentwicklung überhaupt bestimmt, als leitendes Prinzip benutzt: wobei man sich freilich gegenwärtig halten muß, daß es sich hier nicht um eine zeitliche, sondern um eine methodische Schichtung handelt und daß demnach in einer gegebenen historischen Gestalt der Sprache die Schichten, die wir hier gedanklich zu sondern versuchen, neben- und miteinander bestehen und sich in der mannigfachsten Weise übereinander lagern können.

Auf der untersten Stufe der geistigen Skala scheinen wir uns dort zu befinden, wo die Vergleichung und Zuordnung der Objekte lediglich von irgendeiner Ähnlichkeit des sinnlichen Eindrucks, den sie hervorrufen, ausgeht. Die Sprachen der Naturvölker bieten mannigfache Beispiele für dies Verfahren einer Zusammenfassung, die ganz von sinnlichen Motiven beherrscht ist. Das inhaltlich Verschiedenartigste kann hier zu einer „Klasse“ zusammengefaßt werden, sobald es nur irgendeine Analogie der sinnlich-wahrnehmbaren Form aufweist. In den melanesischen Sprachen, sowie in vielen amerikanischen Eingeborenensprachen besteht die Tendenz, besondere Präfixe für diejenigen Gegenstände zu gebrauchen, die durch ihre längliche oder runde Form gekennzeichnet sind. Durch diese Tendenz werden z. B. die Ausdrücke für Sonne und Mond mit denen für das menschliche Ohr, für Fische von bestimmter Form, für Kanus u. s. f. zu ein und derselben sprachlichen Gruppe zusammengeschlossen, während auf der anderen Seite etwa die Namen für Nase und Zunge, als Bezeichnungen länglicher Gegenstände, stehen[1]. Schon einer ganz anderen Schicht der Betrachtung scheinen solche Klassenunterscheidungen anzugehören, die, statt von einer bloßen Ähnlichkeit im Inhalt der einzelnen Wahrnehmungsdinge auszugehen, auf irgendeiner Verhältnisbestimmung gegründet sind, die also die Objekte je nach ihrer Größe, ihrer Zahl, ihrer Stellung und Lage voneinander unterscheiden. In ersterer Hinsicht verwenden z. B. die


  1. [1] Codrington, Melanesian languages, S. 146 f. – Was die amerikanischen Sprachen betrifft, so zerlegt z. B. die Haida-Sprache alle Nomina in verschiedene, durch sinnlich-räumliche Merkmale gekennzeichnete Gruppen, unterscheidet also scharf die Gruppe der „langen“, der „dünnen“, der „runden“, der „flachen“, der „eckigen“, der „fadenförmigen“ Gegenstände. S. Swanton, Haida in Boas’ Handbook I, 216, 227 ff.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/281&oldid=- (Version vom 14.3.2023)