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bezeichnet wird, daß dem allgemeinen Namen der Tierart ein Wort hinzugefügt wird, das die besondere Geschlechtsbezeichnung enthält. Auch im menschlichen Kreise tritt diese Bezeichnung ein, indem z. B. ein allgemeiner Ausdruck wie Kind oder Diener durch Zusätze dieser Art zum Ausdruck für Sohn und Tochter, Knecht und Magd u. s. f. gestaltet wird[1].

Humboldt, der gleich Jakob Grimm den Ursprung der sprachlichen Klasseneinteilungen in einer Grundfunktion des sprachlichen „Einbildungsvermögens“ findet, faßt daher dieses Vermögen von Anfang an in einem weiteren Sinne, indem er statt von dem Unterschiede des natürlichen Geschlechts von dem allgemeinen Unterschied des Belebten und Unbelebten ausgeht. Er stützt sich hierbei im wesentlichen auf seine Beobachtungen an amerikanischen Eingeborenensprachen, von denen die meisten den Unterschied des natürlichen Geschlechts entweder gar nicht oder nur gelegentlich und unvollkommen bezeichnen, die aber statt dessen für den Gegensatz zwischen leblosen und lebendigen Gegenständen überall das feinste Gefühl bekunden. In den Algonkin-Sprachen ist es dieser Gegensatz, der die gesamte Struktur der Sprache beherrscht. Ein besonderes Suffix (-a) bezeichnet hier ein Objekt, das in sich die Eigenschaften des Lebens und der selbständigen Bewegung vereint; ein anderes (-i) bezeichnet die Gegenstände, die dieser Attribute ermangeln. Jedes Verbum oder Nomen muß unter die eine oder die andere dieser beiden Klassen fallen: wobei freilich die Unterordnung sich keineswegs allein nach den Merkmalen richtet, die die rein empirische Beobachtung darbietet, sondern durch die Richtung der mythischen Phantasie und der mythischen Naturbelebung entscheidend mitbestimmt wird. So werden z. B. in diesen Sprachen eine große Zahl von Pflanzen – unter ihnen die wichtigsten Pflanzenarten, wie das Korn und der Tabak – der Klasse der belebten Gegenstände zugerechnet[2]. Wenn anderwärts auch die Gestirne mit den Menschen und Tieren grammatisch in dieselbe Klasse versetzt werden, so sieht Humboldt hierin den deutlichsten Beleg dafür, daß


  1. [1] Dieses Verfahren, das vor allem in den finnisch-ugrischen u. den altaischen Sprachen gilt, deren keine eine Genusbezeichnung im Sinne des Indogermanischen kennt, ist auch sonst weit verbreitet. Für die letzteren s. z. B. Boethlingk, Die Sprache der Jakuten, S. 343 und J. J. Schmidt, Grammat. der mongol. Sprache, S. 22 ff.; für andere Sprachkreise s. H. C. v. d. Gabelentz, Die melanes. Sprachen, S. 88; Westermann, Die Sudansprachen, S. 39 ff.; Matthews, Languages of some native tribes of Queensland, J. and Proc. of the Royal Soc. of N. S. Wales XXXVI (1902), S. 148, 168.
  2. [2] Zur Klassenbildung der Algonkin-Sprachen s. W. Jones, Algonquian (Fox) in Boas’ Handbook I, 760 f.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/286&oldid=- (Version vom 18.3.2023)