Bestimmungen, die rein dem Ausdruck der Beziehung zwischen den Einzelelementen dienen und diese Beziehung selbst in mannigfacher Weise gliedern und abstufen.
Diese Erwartung scheint freilich nicht erfüllt zu werden, wenn man die Struktur der sogen. „isolierenden Sprachen“ ins Auge faßt, in denen man in der Tat oft den unmittelbaren Beweis für die Möglichkeit und die Wirklichkeit schlechthin „formloser“ Sprachen erbracht sah. Denn hier scheint sich das eben angenommene Verhältnis zwischen Satz und Wort nicht nur nicht zu bestätigen, sondern unmittelbar in sein Gegenteil zu verkehren. Das Wort scheint jene Selbständigkeit, jene echte „Substantialität“ zu besitzen, kraft deren es in sich selbst „ist“ und aus sich allein begriffen werden muß. Die einzelnen Wörter stehen im Satze als materiale Bedeutungsträger einfach nebeneinander, ohne daß ihre grammatische Beziehung zu irgendeiner gesonderten expliziten Heraushebung gelangt. Im Chinesischen, das den Hauptbeleg für den Typus der isolierenden Sprachen bildet, kann ein und dasselbe Wort bald als Substantivum, bald als Adjektivum, bald als Adverbium, bald als Verbum gebraucht werden, ohne daß diese Verschiedenheit der grammatischen Kategorie an ihm selbst in irgendeiner Weise kenntlich wäre. Auch die Tatsache, daß ein Substantivum in diesem oder jenem Numerus oder Kasus, ein Verbum in diesem oder jenem Genus, Tempus oder Modus gebraucht wird, drückt sich in der Lautgestalt des Wortes in keiner Weise aus. Die Sprachphilosophie hat lange Zeit geglaubt, vermöge dieser Gestaltung des Chinesischen einen Blick in jene Urperiode der Sprachbildung tun zu können, in der alle menschliche Rede noch in der Aneinanderreihung einfacher und einsilbiger „Wurzeln“ bestand: ein Glaube, der dann freilich durch die historische Forschung schon dadurch mehr und mehr zerstört wurde, daß sie zeigte, daß die strenge Isolierung, wie sie heute im Chinesischen herrscht, kein schlechthin ursprünglicher Bestand, sondern erst ein vermitteltes und abgeleitetes Ergebnis ist. Die Annahme, daß die Wörter des Chinesischen nie einen Wandel erfahren hätten, und daß die Sprache niemals irgend eine Art von Wort- oder Formbildung besessen habe, wird – wie G. v. d. Gabelentz betont – unhaltbar, sobald man das Chinesische den nächstverwandten Sprachen vergleicht und es im Gesamtkreis dieser letzteren betrachtet. Hier trete sogleich hervor, daß es noch mannigfache Spuren älterer agglutinierender, ja auch echt flexivischer Bildung an sich trage. In dieser Hinsicht glaubt man heute vielfach die Entwicklung des Chinesischen mit der des modernen Englisch vergleichen zu können, in dem sich gleichfalls der Übergang
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/292&oldid=- (Version vom 19.3.2023)