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„Stil“ der Sprache erst ihr letztes und höchstes Produkt. Er fehlt nicht nur den Sprachen der Naturvölker[1], sondern scheint auch in den höchst entwickelten Kultursprachen nur ganz allmählich gewonnen zu werden. Auch hier muß sehr häufig ein komplexes gedankliches Verhältnis kausaler oder teleologischer Art – ein Verhältnis von Grund und Folge, von Bedingung und Bedingtem, von Zweck und Mittel u. s. f. – durch einfache Koordination wiedergegeben werden. Oft dient eine absolute Satzfügung, vergleichbar dem lateinischen Ablativus absolutus oder dem griechischen Genetivus absolutus, dazu, solche komplexen Beziehungen des „indem“ und „nachdem“, des „weil“ und „daher“, des „obgleich“ und „damit“ anzudeuten. Die einzelnen Gedanken, die die Rede konstituieren, liegen hier sprachlich gleichsam noch in einer Ebene: es gibt noch keine perspektivische Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund in der Rede selbst[2]. Die Sprache beweist die Kraft der Unterscheidung und Gliederung


  1. [1] Belege für die Vorherrschaft der Parataxe in den Sprachen der Naturvölker lassen sich den Darstellungen der meisten Negersprachen und der amerikanischen Eingeborenensprachen entnehmen. Für die ersteren s. z. B. Steinthal, Die Mande-Negersprachen, S. 120 ff., 247 ff. und Roehl, Schambalasprache, S. 27; für die letzteren s. Gatschet, Klamath language, S. 656 ff. Im Ewe werden – nach Westermann, Ewe-Grammat. S. 106 – alle abhängigen Nebensätze, wenn sie vor dem Hauptsatze stehen, mit dem Artikel lá abgeschlossen; sie werden also eigentlich als Satzteile, nicht als Sätze angesehen. In der Nubasprache werden die Nebensätze wie Nomina behandelt und erscheinen daher mit denselben Kasusbezeichnungen wie die Nennwörter (Reinisch, Nuba-Sprache, S. 142).
  2. [2] Besonders charakteristische Belege hierfür scheinen sich im Kreise der finnisch-ugrischen und der altaischen Sprachen zu finden. Vom Satzbau dieser Sprachen sagt H. Winkler, daß in ihm ursprünglich für Nebensätze aller Art überhaupt kein Raum sei, weil das ganze Satzgefüge ein adnominalartiger, geschlossener, einheitlicher, wortartiger Komplex sei oder lediglich die lückenlose Verbindung eines subjektartigen Teils mit einem prädikatartigen darstelle. In beiden Fällen trete alles nach unserer Auffassung Nebensächliche, wie die zeitlichen und örtlichen, die begründenden und konditionalen Bestimmungen zwischen die beiden einzig wesentlichen Teile des Satzes oder Satzwortes. „Das ist keine Fiktion, sondern das ist noch fast unverkennbar das eigentliche Wesen des Satzes in den meisten uralaltaischen Zweigen, so im Mongolischen, Tungusischen, Türkischen und Japanischen … Das Tungusische … macht den Eindruck, als ob in diesem eigentümlich herausgebildeten Idiom für alles, was an relative oder relativartige Bindung erinnert, überhaupt kein Raum sei. Im Wotjakischen erscheint unser indogermanischer konjunktionaler Nebensatz gleichmäßig und regelmäßig in der Gestalt einer dem Satzgefüge eingereihten Nebenbestimmung nach Art der indogermanischen sogen. absoluten Genitive, Ablative, Akkusative.“ (Der ural-altaische Sprachstamm, S. 85 f., 107 ff.) Auch im Chinesischen ist es – nach G. v. d. Gabelentz, Chines. Grammatik S. 168 f. – eine häufige Erscheinung, daß ganze Sätze einfach aneinandergereiht werden und daß lediglich dem Zusammenhange zu entnehmen ist, ob man ein zeitliches oder ursächliches, ein relatives oder konzessives Verhältnis zu denken habe.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/299&oldid=- (Version vom 20.3.2023)