rein ihrem materiellen Bestand nach aufzufassen, also die Zeichen, deren sie sich bedienen, lediglich ihrer physischen Beschaffenheit nach zu beschreiben, so wird man auf einen Inbegriff besonderer Empfindungen, auf einfache Qualitäten des Gesichts-, Gehörs- oder Tastsinns als letzte Grundelemente zurückgeführt. Aber nun begibt sich das Wunder, daß diese einfache sinnliche Materie durch die Art, in der sie betrachtet wird, ein neues und vielgestaltiges geistiges Leben gewinnt. Indem der physische Laut, der sich als solcher nur durch Höhe und Tiefe, durch Intensität und Qualität unterscheidet, sich zum Sprachlaut formt, bestimmt er sich damit zum Ausdruck der feinsten gedanklichen und gefühlsmäßigen Differenzen. Was er unmittelbar ist, tritt jetzt völlig zurück gegenüber dem, was er mittelbar leistet und „besagt“. Auch die konkreten Einzelelemente, aus denen das Werk der Kunst sich aufbaut, zeigen deutlich dieses Grundverhältnis. Kein künstlerisches Gebilde läßt sich als die einfache Summe dieser Elemente verstehen, sondern in jedem wirkt ein bestimmtes Gesetz und ein spezifischer Sinn ästhetischer Formgebung. Die Synthese, in der das Bewußtsein eine Folge von Tönen zur Einheit einer Melodie verknüpft, ist von derjenigen, kraft deren eine Mannigfaltigkeit von Sprachlauten sich für uns zur Einheit eines „Satzes“ zusammenfügt, offenbar völlig verschieden. Aber gemeinsam ist ihnen das Eine, daß in beiden Fällen die sinnlichen Einzelheiten nicht für sich stehen bleiben, sondern daß sie sich einem Bewußtseins-Ganzen einfügen und von diesem erst ihren qualitativen Sinn erhalten. –
Versuchen wir, die Gesamtheit der Beziehungen, durch welche die Einheit des Bewußtseins bezeichnet und als solche konstituiert wird, in einem ersten allgemeinen Überblick vor uns hinzustellen, so werden wir zunächst auf eine Reihe bestimmter Grundrelationen geführt, die als eigentümliche und selbständige „Weisen“ der Verknüpfung einander gegenüberstehen. Das Moment des „Nebeneinander“, wie es sich in der Form des Raumes, das Moment des Nacheinander, wie es sich in der Form der Zeit darstellt – die Verknüpfung von Seinsbestimmungen in der Art, daß die eine als „Ding“, die andere als „Eigenschaft“ gefaßt wird, oder von aufeinanderfolgenden Ereignissen in der Art, daß das eine als Ursache des anderen erscheint: dies alles sind Beispiele solcher ursprünglichen Beziehungsarten. Der Sensualismus versucht vergeblich, sie aus dem unmittelbaren Inhalt der einzelnen Impressionen herzuleiten und zu erklären. „Fünf Töne auf einer Flöte“ mögen immerhin, nach Humes bekannter psychologischer Theorie, die Vorstellung der Zeit „ergeben“ – aber dies Resultat ist nur dann möglich, wenn das charakteristische Beziehungs-
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/43&oldid=- (Version vom 12.12.2020)