ein Allgemeingültiges darzustellen. Hier verliert daher ebensowohl der sensualistische Grundsatz „Nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in sensu“, wie seine intellektualistische Umkehrung seine Geltung. Denn es handelt sich nicht mehr um ein Voraufgehen oder Nachfolgen des „Sinnlichen“ gegenüber dem „Geistigen“, sondern um die Offenbarung und Manifestation geistiger Grundfunktionen im Material des Sinnlichen selbst. Von diesem Standpunkt aus gesehen, erscheint es als Einseitigkeit des abstrakten „Empirismus“, wie des abstrakten „Idealismus“, daß in beiden eben dieses Grundverhältnis nicht zur vollen Klarheit entwickelt ist. Auf der einen Seite wird ein Begriff vom Gegebenen und Einzelnen aufgestellt, ohne daß erkannt ist, daß jeder solche Begriff, explizit oder implizit, immer schon die Momente und Bestimmungen irgendeines Allgemeinen in sich fassen muß – auf der anderen Seite wird die Gültigkeit und Notwendigkeit dieser Bestimmungen behauptet, ohne daß das Medium bezeichnet wird, kraft dessen sie sich in der psychologischen Gegebenheit des Bewußtseins allein darzustellen vermögen. Geht man dagegen statt von irgendwelchen abstrakten Postulaten von der konkreten Grundform des geistigen Lebens selbst aus, so erscheint dieser dualistische Gegensatz als aufgehoben. Der Schein einer ursprünglichen Trennung zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen, zwischen „Idee“ und „Erscheinung“ verschwindet. Denn freilich blieben wir auch hier in einer Welt der „Bilder“ befangen – aber es handelt sich nicht um solche Bilder, die irgendeine an sich bestehende Welt der „Sachen“ wiedergeben, sondern um Bildwelten, deren Prinzip und Ursprung in einer autonomen Schöpfung des Geistes selbst zu suchen ist. Durch sie allein erblicken wir und in ihnen besitzen wir das, was wir die „Wirklichkeit“ nennen: denn die höchste objektive Wahrheit, die sich dem Geist erschließt, ist zuletzt die Form seines eigenen Tuns. In der Totalität seiner eigenen Leistungen und in der Erkenntnis der spezifischen Regel, durch die jede von ihnen bestimmt wird, sowie in dem Bewußtsein des Zusammenhangs, der alle diese besonderen Regeln wieder zur Einheit einer Aufgabe und einer Lösung vereint: in alledem besitzt nunmehr der Geist die Anschauung seiner selbst und die der Wirklichkeit. Auf die Frage aber, was das absolut Wirkliche außerhalb dieser Gesamtheit der geistigen Funktionen, was das „Ding an sich“ in diesem Sinne sein möge – auf diese Frage erhält er freilich keine Antwort mehr, es sei denn, daß er sie mehr und mehr als ein falsch gestelltes Problem, als ein Trugbild des Denkens erkennen lernt. Der echte Begriff der Realität läßt sich nicht in die bloße abstrakte Seinsform hineinpressen, sondern er
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/63&oldid=- (Version vom 20.8.2021)