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der Dinge oder die unmittelbare Beschaffenheit seiner sinnlichen Eindrücke – so wenig geht, für diese erste Stufe der Betrachtung, auch das Sein und die Bedeutung der Worte auf eine freie Tätigkeit des Geistes zurück. Das Wort ist nicht eine Bezeichnung und Benennung, nicht ein geistiges Symbol des Seins, sondern es ist selbst ein realer Teil von ihm. Die mythische Anschauung der Sprache, die der philosophischen überall vorausgeht, ist durchgehend durch diese Indifferenz von Wort und Sache gekennzeichnet. Für sie ist im Namen jedes Dinges sein Wesen beschlossen. An das Wort und seinen Besitz knüpfen sich unmittelbar magische Wirkungen. Wer sich des Namens bemächtigt und ihn zu gebrauchen weiß, der hat damit die Herrschaft über den Gegenstand selbst gewonnen, – der hat sich ihn mit all seinen Kräften zu eigen gemacht. Aller Wort- und Namenzauber beruht auf dieser Voraussetzung, daß die Welt der Dinge und die der Namen eine einzige Wirklichkeit, weil ein einziger in sich ungeschiedener Wirkenszusammenhang ist. Es ist die gleiche Form der Substantialität und die gleiche Form der Kausalität, die in jeder von ihnen gilt und die sie mit einander zu einem in sich geschlossenen Ganzen verknüpft.

Diese eigentümliche „Ganzheit“ des mythischen Weltbildes, diese Aufhebung aller Besonderungen der Dinge in einen mythisch-magischen Kreis des Wirkens schließt nun auch für die Auffasssung der Sprache eine bedeutsame Konsequenz in sich. Sobald der Mythos sich über die Stufe der primitivsten magischen „Praxis“ erhebt, die je eine besondere Wirkung durch die Anwendung eines besonderen Mittels zu erreichen strebt, die also im unmittelbaren Tun ein Einzelnes an ein anderes Einzelne knüpft, – sobald er in noch so roher und unvollkommener Form sein eigenes Tun zu verstehen sucht, ist er damit bereits zu einer neuen Sphäre der Allgemeinheit durchgedrungen. Als Erkenntnisform ist ihm, wie jeder anderen Erkenntnis, der Zug zur Einheit wesentlich. Sollen die geistigen Wesenheiten und Kräfte, in denen der Mythos lebt, für das Tun des Menschen beherrschbar sein, so müssen sie in sich selbst bereits irgendwelche bleibende Bestimmungen aufweisen. So schließt schon der erste unmittelbar sinnliche und praktische Zwang, den der Mensch auf die ihn umgebenden Dinge der Natur ausübt, den ersten Keim für den Gedanken einer in ihnen waltenden theoretischen Notwendigkeit in sich. Je weiter das mythische Denken fortschreitet, um so mehr hören die dämonischen Einzelkräfte auf, bloße Einzelkräfte, bloße „Augenblicksgötter“ oder „Sondergötter“ zu sein; – um so mehr zeigt sich auch zwischen ihnen eine Art Über- und Unterordnung, eine Art der hierarchischen

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/72&oldid=- (Version vom 15.9.2022)