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παλίντροπος ἁρμονίη ὅκωςπερ τόξου καὶ λύρης (fr. 51). Und hier tritt uns das Grundgesetz des All zugleich in gesteigerter, in potenzierter Form entgegen. Denn was im Seienden als Gegensatz erscheint, das wird im Ausdruck der Sprache zum Widerspruch: – und nur in einem solchen Wechselspiel von Setzung und Aufhebung, von Spruch und Widerspruch gelingt es, das wahrhafte Gesetz und die innere Struktur des Seienden in der Sprache wiederzugeben. So begreift man, von Heraklits Gesamtanschauung der Welt aus, die Grundform seines Stils, dessen vielberufene „Dunkelheit“ nicht zufällig und willkürlich, sondern der adäquate und notwendige Ausdruck des Gedankens selbst ist. Heraklits Sprachstil und sein Denkstil bedingen sich wechselseitig: beide stellen, nach verschiedenen Seiten hin, das gleiche Grundprinzip seiner Philosophie, das Prinzip des ἑν διαφερόμενον ἑαυτῷ dar. Sie weisen auf jene „unsichtbare Harmonie“ hin, die, nach Heraklits Wort, besser ist als die sichtbare, und wollen an ihr gemessen sein. Wie Heraklit das einzelne Objekt in den stetigen Strom des Werdens stellt und es in ihm zugleich vernichtet und aufbewahrt sein läßt, so soll auch das einzelne Wort sich zum Ganzen der „Rede“ verhalten. Selbst die innere Vieldeutigkeit, die dem Wort anhaftet, ist daher kein bloßer Mangel der Sprache, sondern ein wesentliches und positives Moment der in ihr gelegenen Ausdruckskraft. Denn in ihr erweist sich eben, daß seine Grenzen, wie die des Seienden selbst, nicht starre, sondern fließende sind. Nur in dem beweglichen und vielgestaltigen Sprachwort, das gleichsam seine eigenen Grenzen immer wieder durchbricht, findet die Fülle des weltgestaltenden Logos ihr Gegenbild. Alle Trennungen, die die Sprache vollzieht und vollziehen muß, müssen von ihr selbst als vorläufige und relative erkannt werden, die sie selbst wieder zurücknimmt, sofern sie den Gegenstand unter einen neuen Gesichtspunkt der Betrachtung rückt. „Gott ist Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Überfluß und Hunger: er wandelt sich aber wie Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk vermengt wird, nach eines jeglichen Belieben bald so, bald anders benannt wird.“ (fr. 62, 67.) So sind Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich: sie leben gegenseitig ihren Tod und sterben ihr Leben, (fr. 62.) Wer daher mit Verstand reden will, der darf sich durch die Besonderung der Worte nicht täuschen lassen, sondern muß hinter sie zurückdringen zu dem allem Gemeinsamen, zum ξυνόν καὶ δεῖον[1]. Dann erst,


  1. [1] ξύν νόωι λέγοντας ἰσχυρίζεσθαι χρὴ τῶι ξυνῶι πάντων, ὅκωςπερ νόμωι πόλις, καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως . τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείου · κρατεῖ γὰρ τοσοῦτον ὁκόσον ἐθέλει καὶ ἐξαρκεῖ πᾶσι καὶ περιγίνεται. (fr. 114.).
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/75&oldid=- (Version vom 15.9.2022)