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Analyse niemals an eine letzte Grenze gelangt, sondern vielmehr ins Unendliche fortschreiten kann und muß[1]. Hier stehen wir an dem Punkte, an dem der Grundgedanke der Leibnizschen Logik sich mit dem Grundgedanken seiner Metaphysik berührt und an dem er unmittelbar in denselben übergeht. Für diese Metaphysik ist der Stufenbau des Seins durch den Stufengang der Erkenntnis bestimmt. Die Monaden, als die einzig wahrhaften substantiellen Wesenheiten, weisen untereinander keinen anderen Unterschied auf, als denjenigen, der in dem verschiedenen Grade der Klarheit und Deutlichkeit ihrer Vorstellungsinhalte besteht. Nur dem höchsten, dem göttlichen Sein eignet die vollkommene Erkenntnis, die in keinem Sinne mehr repräsentativ, sondern rein intuitiv ist, d. h. die ihre Gegenstände nicht mehr mittelbar durch Zeichen betrachtet, sondern sie unmittelbar in ihrer reinen und ursprünglichen Wesenheit anschaut. Hiermit verglichen erscheint selbst die höchste Stufe, zu der sich das Wissen des endlichen Geistes erhebt, erscheint auch die distinkte Erkenntnis der Figuren und Zahlen, nur als inadäquates Wissen: denn sie muß sich, statt die geistigen Inhalte selbst zu erfassen, großenteils mit ihren Zeichen genügen lassen. Bei jedem längeren mathematischen Beweis sind wir zu dieser Stellvertretung gezwungen. Wer z. B. ein reguläres Tausendeck denkt, der ist sich nicht immer der Natur der Seite, der Gleichheit und der Zahl tausend, bewußt, sondern er gebraucht diese Worte, deren Sinn ihm nur dunkel und unvollkommen gegenwärtig ist, statt der Ideen selber, da er sich erinnert, daß er ihre Bedeutung kenne, eine nähere Erklärung aber im gegenwärtigen Augenblick nicht für notwendig erachtet. Hier haben wir es also, statt mit einer rein intuitiven, mit einer „blinden“ oder symbolischen Erkenntnis zu tun, die, wie die Algebra und Arithmetik, so auch fast unser gesamtes sonstiges Wissen beherrscht[2]. So sieht man, wie die Sprache, indem sie im Entwurf der allgemeinen Charakteristik das Ganze der Erkenntnis mehr und mehr zu umspannen sucht, eben dieses Ganze zugleich beschränkt und es in ihre eigene Bedingtheit hineinzieht. Aber diese Bedingtheit hat keineswegs einen bloß negativen Charakter, sondern schließt ein durchaus positives Moment in sich. Wie jede noch so dunkle und verworrene sinnliche Vorstellung einen echten rationalen Erkenntnisgehalt in sich schließt, der


  1. [1] Les plus abstraites pensées ont besoin de quelque imagination: et quand on considère ce que c’est que les pensées confuses (qui ne manquent jamais d’accompagner les plus distinctes que nous puissions avoir) comme sont celles des couleurs, odeurs, saveurs, de la chaleur, du froid etc. on reconnoist qu’elles enveloppent toujours l’infini. Réponse aux reflexions de Bayle, Philos. Schriften (Gerhardt), IV., 563.
  2. [2] S. Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684). Philos. Schr. IV, 422 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/87&oldid=- (Version vom 15.9.2022)