Erläuterung der Struktur der Erkenntnis gebraucht, sondern sie bildet zu ihr das genaue Widerspiel. Weit entfernt, einen auch nur bedingten und relativen Wahrheitsgehalt in sich zu schließen, ist die Sprache vielmehr der Zauberspiegel, der uns die wahren Formen des Seins nur in eigentümlicher Verfälschung und Verzerrung erkennen läßt. Hier hat sich innerhalb des Empirismus selbst eine dialektische Entwicklung und eine dialektische Umkehr vollzogen, die am deutlichsten und schlagendsten heraustritt, wenn man die beiden geschichtlichen Extreme der empiristischen Sprachphilosophie einander gegenüberstellt. Wenn Berkeley den Wahrheits- und Erkenntnisgehalt der Sprache aufzuheben strebt, wenn er in ihr den Grund alles Irrtums und aller Selbsttäuschung des menschlichen Geistes sieht, so war bei Hobbes der Sprache nicht nur Wahrheit, sondern – alle Wahrheit zugesprochen worden. Hobbes’ Wahrheitsbegriff gipfelt in der These, daß Wahrheit nicht in den Dingen, sondern einzig und allein in den Worten und im Gebrauch der Worte liege: veritas in dicto, non in re consistit[1]. Die Dinge sind und bestehen als reale Einzelheiten, von denen uns in den konkreten sinnlich-einzelnen Empfindungen Kunde wird. Aber weder das einzelne Ding, noch die einzelne Empfindung kann jemals den wahrhaften Gegenstand des Wissens ausmachen: denn jedes Wissen, das diesen Namen verdient, will statt bloß historischer Kenntnis des Besonderen, vielmehr philosophische, d. h. notwendige Erkenntnis des Allgemeinen sein. Wenn daher die Sinnlichkeit und das Gedächtnis sich im Faktischen beschränken, so geht alle Wissenschaft auf allgemeine Beziehungen und Schlußfolgerungen, auf deduktive Verknüpfungen[2]. Das Organ und das Instrument aber, dessen sie sich hierbei bedient, kann kein anderes als das Wort sein. Denn deduktive Einsicht kann unser Geist nur von denjenigen Inhalten erwerben, die ihm nicht, gleich den Dingen oder den sinnlichen Empfindungen, von außen her gegeben sind, sondern die er selbst erschafft und von sich aus frei hervorbringt. Solche Freiheit aber eignet ihm nicht gegenüber den wirklichen Gegenständen der Natur, sondern nur gegenüber ihren ideellen Stellvertretern, gegenüber den Bezeichnungen und Benennungen. Die Schaffung eines Systems von Namen ist daher nicht nur eine Vorbedingung für jedes System des Wissens – sondern alles wahrhafte Wissen geht in einer solchen Schöpfung von Namen und in ihrer Verknüpfung zu Sätzen und Urteilen auf. Wahrheit und Falschheit sind demgemäß nicht Attribute der Dinge, sondern Attribute der Rede – und ein Geist, der der Rede entbehrte,
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/94&oldid=- (Version vom 14.9.2022)