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Denn unsere Seele ist nicht anders vor euch wie eine lebende und eingefangene Fliege.“


* * *


Das Sterben.

Vor der Zeit wurde sie alt, wegen der Enttäuschungen, wie alle Menschen.

Es ist ein Krebs der Seele, unmerklich zernagend.

Sie wurde 60 Jahre alt, immer dicker, immer gelber, immer enttäuschter.

Ihr ältester Sohn hatte ihr schon vor Jahren gepredigt: „Mama, Schlafen ist wichtiger als Essen und Trinken. Lasse doch wenigstens der Natur Zeit die Sünden unserer Unwissenheiten zu tilgen!“

Sie erwiderte: „Um 6 Uhr morgens muss aber das Speisezimmer gebürstet, geklopft werden, ferner, aber davon verstehst du ja nichts – – –“

Nein, davon verstand er nichts.

Die Lebens-Ordnung auf Kosten der Hausordnung!

Diese Hausordnung wurde ihr grässlicher Henker.

Das Gesetz der leblosen Materie hatte das Gesetz der lebendigen Materie besiegt!

Die Hausordnung die Lebensordnung!

Eines Nachts wurde sie gehenkt, gehenkt, gehenkt – – – – – dann im letzten entsetzlichen Augenblicke befreit, losgemacht, abgeschnitten – – – aufgespart nämlich für einen späteren noch entsetzlicheren Anfall der Herzkrankheit und Atemnot!

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Peter Altenberg: Pròdromos. Berlin 1906, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Prodromos_(Altenberg).djvu/186&oldid=- (Version vom 1.8.2018)