Seite:Ramdohr-Venus Urania-Band 1.djvu/195

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Geiste, von dem er dasjenige nehmen möge, was ihm zu jenem Vollkommenheitszustande abgeht, in den er dasjenige ausströmen lassen könne, was er zu jenem Vollkommenheitszustande zu viel oder überflüssig hat. Daher der Muth und die Weichheit, daher die Kraft und die Ermattung während der Bestrebung; daher der üppige Schauer bey dem Gelingen!

Dieser schwärmerische Aneignungstrieb der Seele äußert sich nun auf sehr verschiedene Art. Oft steckt die Lüsternheit der Seele den Körper mit ähnlichen Empfindungen an, und dieser modificiert sie auf seine eigene Weise zu einer wahren Lüsternheit nach Körperverbindung. Oft aber bleibt es auch bey einer bloßen consensualischen Reitzung der Nerven, ohne eine Bestrebung dieser Art. Doch von allem diesen mehr in der Folge. Ich will hier nur einige der auffallendsten Beyspiele des schwärmerischen Aneignungstriebes der Seele in der Absicht anführen, um zu zeigen, daß nicht bloß Personen, welche für Männer und Weiber anerkannt werden, diesem Zustande unter einander nachstreben, sondern daß er überall angetroffen wird, wo sich ein Wohlverhältniß stärkerer und zärterer Geister zu dem Berührungspunkte einer gezärtelten Spannung unter Mitwirkung der Phantasie voraussetzen läßt.

Junge Künstler werden für große Meister in der Kunst, deren Talent sie zu erlernen hoffen; Schüler für ihre Lehrer in den Wissenschaften; Personen, welche bey vieler Sinnlichkeit zugleich den Trieb nach sittlicher Vollkommenheit in sich fühlen, für Personen, welche auf einer hohen Stufe der Tugend stehen, und sich durch Strenge gegen sich selbst und Nachsicht gegen andere auszeichnen, diesen Aneignungstrieb der Geister empfinden.