Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Zweyter Theil | |
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sind, diese Briefe, wie ausgefüllt fühlen wir uns durch die Hoffnung, daß sie rühren werden! Und dann die ungeduldige Erwartung, welche die Phantasie so mächtig hebt: die unaussprechliche Wonne bey dem Empfange! O wie zählen wir Tage und Stunden und Augenblicke bis zu demjenigen, der das lang ersehnte Gut unserer Rechnung nach herbeybringen wird! Er kommt, und bey dem Anblicke des wohlbekannten Siegels erfahren wir alle Symptome der Bewegung, die der Anblick der geliebten Person selbst hervorbringen würde. Wir reißen den Brief an uns, verzehren ihn, lernen ihn auswendig! Kostbare Documente unsers Glücks! unschätzbare Kleinodien unsers Stolzes! Wer kann sich von euch trennen! Wir tragen euch auf unserm Herzen, so gleichgültig euer Inhalt jedem andern scheinen mag, so gefährlich die Aufbewahrung vielleicht wirklich ist!
Briefe machen ein wesentliches Ingredienz in jeder liebenden Verbindung aus. Briefe gehören in jeden Roman. Niemand hat ihren Werth besser empfunden, als die edle aber unglückliche Heloise. O Abelard, schreibt sie, ich will deine Briefe immer bey mir tragen, ich will sie ohne Unterlaß küssen. Du sollst keine Eifersucht kennen, als diejenige, welche die Liebkosungen, die ich an sie verschwende, dir erwecken könnten! Ich kann nicht ohne Versicherung deiner Liebe leben! Schreib mir ohne Sorgfalt! Laß nur dein Herz reden! Wie leicht, wie natürlich muß dir der Ausdruck werden, daß du mich liebst!
Anders zeigt sich die Liebe in Briefen wahr, anders edel, anders schön. Die bekannten Briefe der portugiesischen Nonne sind vielleicht das Wahreste, was wir
Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Zweyter Theil. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1798, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ramdohr-Venus_Urania-Band_2.djvu/281&oldid=- (Version vom 1.8.2018)