Seite:Ramdohr-Venus Urania-Band 2.djvu/289

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und gespannter. Ja, die Seele bleibt hier noch im Gleichgewicht mit dem Körper; sie nimmt mit ihm noch gleichen Antheil an den Freuden der Liebe; sie bewacht, sie leitet diese zu ihrem Vortheile. Einen Schritt weiter, und die Seele verliert sich im Uebermaße körperlicher Entzückung, sie theilt nicht mehr mit dem Gefährten, sie erniedrigt sich unter ihm. Psyche, das Bild der Seele durfte den Cupido nur küssend umarmen!

So räsonniert die feinere Lascivität. Aber wahre Liebe hat nur Ein Gesetz: beglücke den Geliebten! Wenn die Umarmung ihn beglückt, so umarmt sie ihn! kennt sie einen höheren Genuß für ihn, so eilt sie, ihm diesen zu geben! Wahre Liebe fürchtet keinen Ueberdruß, keine Ermattung! Sie weiß auch den unnennbaren Genuß zu veredeln, und ihn der Seele würdig zu machen!

Und wie verschieden ist nicht der Kuß, den wahre Liebe auf unsere Lippen drückt, von demjenigen, den die Lascivität, selbst die feinere, von diesen Lippen für sich hinnimmt! O Raphael, leih’ mir deinen Pinsel; ich will wahre Liebe in einer Umarmung mahlen! O Julio Romano! du sein Schüler, leih’ mir den deinigen; ich will eine andere Umarmung zum Gegenstücke mahlen, in der niemand die eigennützige Begierde verkennen soll!

Vollkommene Liebe äußert sich also schon im Kusse, den sie als Ausdruck ganz vereinigter Herzen nutzt. Der Sinn des Edeln kann ihn als Symbol der Vereinigung achtungswürdiger Wesen brauchen. Er entfernt von ihm alles, was auf den Mangel zarter sittlicher Empfindungen schließen läßt; er nutzt ihn zur Belohnung der Tugend, und zur Ermunterung in dem Kampfe gegen