Seite:Ramdohr-Venus Urania-Band 3.1.djvu/180

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Der Zustand seiner Seele gleicht dem eines körperlichen Fiebers: auf den kalten Schauer folgt Hitze, folgt Schweiß. Die Schönheit, deren Ausströmungen er durch die Augen aufnimmt, durchwärmt ihn: die Stockung, welche den Aufschuß des Gefieders verhinderte, löset sich auf, und der Wachsthum der Flügel wird durch die feuchte Ausdünstung befördert. Nun ist Alles in Gährung bey der Seele: Alles brauset in ihr auf. So wie zähnenden Kindern das Zahnfleisch schmerzt und juckt, so leidet die Seele von dem peinigenden und kitzelnden Sprossen des Gefieders. In diesem Zustande findet sie Erleichterung beym Anblick der Schönheit, die durch die Ausströmung der Theilchen, welche Liebreitz heißen, das Hervortreiben der Fittige befördern. Entfernt sie sich aber von dem geliebten Gegenstande, so ziehen sich die Mündungen, durch welche das Gefieder treiben soll, zusammen. Der vorher mit eingesogene Liebreitz vermehrt noch die Qual und das innere Brennen und Stechen. Bald bringt der marternde Schmerz die Seele an den Rand der Verzweiflung, bald wird sie durch Erinnerungen an das Schöne gelabt. Zagend über diesen seltsamen Zustand von gemischten Empfindungen steigt ihre Angst bis zur Wuth. Sie findet keine Ruhe bey Tage und bey Nacht. Sehnsuchtsvoll stürzt sie zu dem Schönen hin, sieht ihn, und findet auf eine Zeitlang Erleichterung und Entzücken. Und für diesen Gegenstand ihrer Bewunderung und ihrer Rettung verläßt sie nun Eltern und Geschwister, und verachtet Vermögen und Größe! Ja! sie verachtet den Ruf und Alles, worauf sie sonst stolz war, um dem Geliebten zu dienen, und in seiner Nähe zu übernachten. Das ist der Zustand, den die Menschen Liebe nennen!“