Seite:Ramdohr-Venus Urania-Band 3.2.djvu/77

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Gedichten der Provenzalen antreffen. Jene ersteren haben einen Ueberfiuß an poetischen Bildern und Gleichnissen, die von einer mit der stärksten Sinnlichkeit verwandten Phantasie zeugen[WS 1]. Alles was sie denken, alles was sie empfinden, nimmt einen Körper an. Die Vernunft zügelt so wenig ihre Einbildungskraft als ihr Herz. Ordnung, Regelmäßigkeit, Zusammenhang, werden oft in dem Gange ihrer Ideen und Empfindungen vergebens gesucht. Ihre Lieder bestehen gemeiniglich aus einzelnen Strophen, die jede für sich als eine abgerissene moralische Sentenz, als ein einzelnes Gemählde, als Ausdruck eines augenblicklichen Affekts bestehen könnten. Uns Abendländern kommt ihre Poesie pomphaft, schwülstig, mit Bildern überladen vor. In Prosa übersetzt würde sie zum Theil für die Sprache eines Besessenen oder Fieberkranken gelten.

Bey den Troubadours ist dieß Alles anders. Sie haben mehr Witz als Phantasie: mehr Herz als Sinnlichkeit: mehr Leichtigkeit und Feinheit als Energie. Der Morgenländer kleidet simple Ideen und Gefühle in abentheuerliche Bilder ein: der Provenzale sucht nach abentheuerlichen Ideen und Gefühlen, und drückt sie matt und kraftlos aus. Es herrscht in den Kompositionen des letztern eine Ordnung, eine Verständlichkeit, die mehr Geschmack aber weniger Begeisterung anzeigt. Seine besten Gedichte in Prosa übersetzt, können durch den wahren und naiven Ausdruck rühren, der jede Aeußerung zärterer Gefühle und richtiger Beurtheilung in ungebundener Redeform dem Herzen und dem Verstande schätzbar macht. Diese Nüchternheit der Phantasie, diese Mäßigung im poetischen Ausdrucke, widerspricht aber ganz der Vermuthung, daß die Troubadours

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: zeigen