Seite:Reymont - Der Vampir.djvu/062

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sie aufmerksam, lernte sie auswendig, wiederholte sie immer wieder, wobei er sich an ihrer grausigen Schönheit berauschte.

Der Künstler war in ihm erwacht, mit solcher Gewalt, daß er seine Umgebung nicht mehr hörte, hingerissen von der Gewalt dieses wilden, feurigen und sehnsuchtsschwangeren Liedes; doch je tiefer er sich in diese Klänge hineinhörte, um so stärker wuchs in ihm die Erinnerung, blaß und wie fern, irgendwo gehörte Worte wurden in ihm lebendig, irgendeine Stimme, die diese Worte gesungen, irgendein Landschaftsbild tauchte vor ihm auf.

Er hatte dies alles unter der Hirnschale, beinahe auf den Lippen, und konnte sich doch nicht erinnern.

„Ein gewaltiger Hymnus, wie wenn Engel sich empörten. Woher kennen Sie ihn?“ hörte er hinter sich die leise Stimme Daisys.

„Ich selbst weiß es nicht genau; und ist er Ihnen bekannt?“

„Ja, ich erinnere mich seiner von irgendwoher.“

„Dann werden Sie mir helfen, denn irgendwelche Worte irren in meinem Gedächtnis umher, irgendein Gesang, den ich irgendwo gehört habe, und dessen ich mich nicht mehr erinnern kann … Und es scheint vor nicht langer Zeit gewesen zu sein … Manchmal scheint es mir, daß es dort war, auf jener Seance bei Mr. Yoe, erinnern Sie sich?“ fragte er auf Umwegen, was direkt zu fragen er sich vorher nicht getraut hatte.

„Ich besuche die Seancen bei Mr. Yoe nicht.“ Ihre Stimme klang hart.

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Władysław Reymont: Der Vampir. Albert Langen, München 1914, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reymont_-_Der_Vampir.djvu/062&oldid=- (Version vom 1.8.2018)