immer Angst, und wenn sie einen Soldaten sieht, weint sie gleich, schreit und läuft fort! Sie hat große Angst! Röschen komm zu uns, Röschen. Hab keine Angst, der Herr wird dir nichts tun!“
Und trotz heftigen Widerstrebens zog sie das Kind unter dem Tische hervor und führte es zu Zenon. Das erschrockene Mädchen zitterte und weinte, große Tränen rollten über sein blasses Gesicht, über das eine blutige Strieme lief, in den blauen Augen mit den goldenen Wimpern barg sich Wahnsinn und Entsetzen. Er wollte ihre roten Locken streicheln, aber sie schrie entsetzt auf und floh in das Innere der Wohnung.
Auch Zenon hatte genug davon.
„Und trotz alledem haben sie noch Lust zu leben,“ dachte er, als er in seine Wohnung zurückgekehrt war; ziemlich lange konnte er den unangenehmen Eindruck nicht von sich abschütteln, lange noch erinnerte er sich an das Kindergesichtchen mit der blutigen Strieme, an die irren, verblödeten Augen und die ausgemergelten Gesichter jener Elenden.
Was geht dort vor? Sein Hirn wurde wieder von Erinnerungen an die Heimat erfüllt. Er versuchte sie auf den tiefsten Grund des Vergessens hinabzustoßen, doch sie ließen sich nicht ersticken, sie erhoben sich wie das Lied der Sehnsucht und lehnen wieder, in immer traurigerer Tonart. Er blieb vor dem Bücherschrank stehen und las mechanisch die polnischen Aufschriften, schon hatte er die Hand nach einem Band ausgestreckt, doch zog er sie eilig wieder zurück.
Władysław Reymont: Der Vampir. Albert Langen, München 1914, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reymont_-_Der_Vampir.djvu/200&oldid=- (Version vom 1.8.2018)