Seite:Reymont - Der Vampir.djvu/208

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der Läden schimmerten Lichter, die schwarzen Menschenwogen strömten wie Flüsse ohne Zahl und Ende.

„Wie sie wohl aussehen mag? Wie wird sie mich empfangen?“ sann er, in die Erinnerung an Tage versunken, die immer deutlicher emporstiegen. Alle längst gestorbenen Worte erklangen in seinen Hirn, alle ihre Blicke glitten an ihm vorüber wie ein Blitzknäuel und erweckten die vermoderten Erinnerungen an Leiden, an Stunden heftiger Krämpfe, Stunden des Zweifels und der Verzweiflung, Augenblicke übermenschlicher Qual; das ganze Golgatha jenes Lebens ergoß sich über ihn wie eine bittere, giftige Welle. Und wenn sie auch vorüberglitten wie ein Reigen von Gespenstern, wenn sie auch nur quälenden Träumen glichen, die, in farbloses Grau gehüllt, zu Staub zerfallen, so erfüllten sie doch seine Seele mit einer Trauer vergeblicher Reue.

„Jedes ‚heute‘ ist ein Grab für das ‚morgen‘! Das ist eine sehr kluge Notwendigkeit.“ Er seufzte jedoch traurig auf und beschloß, als er das Hotel betrat, sich auf keinen Fall aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen und dem Zauber der Vergangenheit bestimmt nicht zu unterliegen.

„Ich bin ihnen fremd und werde ihnen fremd bleiben. Zehn lange Jahre liegen zwischen uns. Aber was will diese marmorkalte Dame von mir? Habe ich es nicht teuer genug erkauft?“ fragte er, und Unwille, Empörung und Ärger kochten in ihm. Doch als er das Vorzimmer betreten hatte und der Diener gegangen war, ihn anzumelden, empfand er plötzlich ein heftiges Verlangen, fortzulaufen. Es war schon

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Władysław Reymont: Der Vampir. Albert Langen, München 1914, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reymont_-_Der_Vampir.djvu/208&oldid=- (Version vom 1.8.2018)