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Gesellschaft an ihre Gedanken und Zweifel über diese Geschichte zu äussern, ob sie wahr sey, ob sie auch wahr seyn könne?

Der Alte behauptete, sie müsse wahr seyn, wenn sie interessant seyn solle: denn für eine erfundene Geschichte habe sie wenig Verdienst. Jemand bemerkte darauf: es scheine sonderbar, daß man sich nicht nach dem abgeschiedenen Freunde und nach den Umständen seines Todes erkundigt, weil doch daraus vielleicht einiges zur Aufklärung der Geschichte hätte genommen werden können.

Auch dieses ist geschehen, versetzte der Alte: ich war selbst neugierig genug gleich nach der ersten Erscheinung in sein Haus zu gehen, und unter einem Vorwand die Dame zu besuchen, welche zuletzt recht mütterlich für ihn gesorgt hatte. Sie erzählte mir, daß ihr Freund eine unglaubliche Leidenschaft gegen das Frauenzimmer gehegt habe, daß er die letzte Zeit seines Lebens fast allein von ihr gesprochen und sie bald als einen Engel, bald als einen Teufel vorgestellt habe.

Als seine Krankheit überhand genommen, habe er nichts gewünscht als sie vor seinem Ende noch einmal zu sehen, wahrscheinlich in der Hoffnung nur noch eine zärtliche Aeusserung, eine Reue oder sonst irgend ein Zeichen der Liebe und Freundschaft von ihr zu erzwingen. Desto schrecklicher sey ihm ihre anhaltende Weigerung gewesen und sichtbar habe die letzte entscheidende abschlägliche Antwort sein Ende beschleunigt. Verzweiflend habe er ausgerufen: nein, es soll ihr nichts helfen! Sie vermeidet mich; aber auch nach meinem Tod soll sie keine Ruhe vor mir haben.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 2-15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/131&oldid=- (Version vom 1.8.2018)