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zu finden, dem sie ihr Herz, selbst nach der Vorschrift ihres Mannes übergeben könnte. Wie aufmerksam ward sie daher, als sie vernahm, daß er täglich vor ihrem Hause vorbeygehe, wie sorgfältig beobachtete sie die Stunde, in der man auf dem Rathhause sich zu versammlen pflegte. Nicht ohne Bewegung sah sie ihn endlich vorbey gehen, und wenn seine schöne Gestalt und seine Jugend für sie nothwendig reitzend seyn mußten, so war seine Bescheidenheit von der andern Seite dasjenige was sie in Sorgen versetzte.

Einige Tage hatte sie ihn heimlich beobachtet und konnte nun dem Wunsche nicht länger widerstehen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie kleidete sich mit Sorgfalt, trat auf den Balkon, und das Herz schlug ihr, als sie ihn die Straße herkommen sah. Allein wie betrübt, ja beschämt war sie, als er wie gewöhnlich mit bedachtigen Schritten, in sich gekehrt und mit niedergeschlagenen Augen, ohne sie auch nur zu bemerken, auf das zierlichste seines Weges vorbey ging.

Vergebens versuchte sie mehrere Tage hintereinander auf eben diese Weise von ihm bemerkt zu werden. Immer ging er seinen gewöhnlichen Schritt, ohne die Augen aufzuschlagen oder da und dorthin zu wenden. Je mehr sie ihn aber ansah, destomehr schien er ihr derjenige zu seyn, dessen sie so sehr bedurfte. Ihre Neigung ward täglich lebhafter, und, da sie ihr nicht widerstand, endlich ganz und gar gewaltsam. Wie! sagte sie zu sich selbst, nachdem dein edler verständiger Mann den Zustand vorausgesehen, in dem du dich in seiner Abwesenheit befinden würdest, da seine Weissagung eintrifft, daß du ohne Freund

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/64&oldid=- (Version vom 1.8.2018)