Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen | |
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wo für das protestantische Volksbewußtsein der Begriff „Papst“ gewiß keine Hoheitsinstanz bedeutet. Trotzdem heben sich die Wünsche der Fischerfrau über König und Kaiser weg bis zum Papst und dann zum lieben Gott empor; und der Mann widersteht vergebens: „Pobst is man eenmal in de Kristenheet“. Diese Stufenfolge der Gewalten kann nicht aus protestantischem Volksbewußtsein hervorgegangen sein. Erst der Künstler Runge hat sie in das Märchen hineingedichtet.
Die beiden Märchen sind plattdeutsch von Runge aufgeschrieben worden. Es liegt in der Anwendung des Volksdialektes wieder bewußte Kunstabsicht, nicht innere Notwendigkeit. Die Brüder Grimm haben Märchen und Sagen, die sie aus Bauernmunde hörten, dennoch in hochdeutscher Sprache vorgetragen. Runge verstand als einer der ersten, sich der Darstellungsmittel der plattdeutschen Mundarten litterarisch wieder zu bedienen. Er ist der Vorläufer der nach ihm einsetzenden norddeutschen Dialektdichtung geworden. Er handhabte leicht und geschickt das Platt seiner Heimat. In der Schilderung einer Fußreise durch dänisches Land, 1800, hat er ganze Partien zu seinem und der Seinigen Pläsir in plattdeutschen Reimzeilen ausgeführt: man erhält fast einen Vorgeschmack des humorvollen Treibens, das in Reuters Gedichten steckt. Runge hatte viele Übung im Dialektschreiben bereits, als er seine plattdeutsche Mundart auch für die Märchen wählte. Er wußte, welche Wirkung er damit hervorbringen könne. Das Plattdeutsch des Vortrages hat sehr wesentlich dazu beigetragen, die Märchen, namentlich hochdeutschen Lesern gegenüber, mit dem frischen Dufte des Volkstümlichen zu umgeben.
Die Märchen sind niemals von Runge selbst publiziert worden, fremde Hände thaten ihnen diesen Dienst. Runge gehörte in Hamburg, wie bemerkt, zu den Hausfreunden des patriotischen Buchhändlers und Verlegers Friedrich Perthes und wurde dort mit Johann Georg Zimmer bekannt, der in Perthes’ Handlung thätig war. Zimmer begründete dann in Heidelberg einen eigenen Verlag, und das erste Werk, das er verlegte, war Des Knaben Wunderhorn. Er schickte es 1805 auch Runge. Als Zeichen seiner Teilnahme an den neuen Heidelberger Bestrebungen übersandte Runge 1806 die beiden Märchen vom Machandelboom
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)