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Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen

suchte. Er nahm keinen Anstand, jetzt, 1809, auch Hagen beide Märchen mitzuteilen. Von diesem empfing sie für seine geplante Märchensammlung Johann Georg Büsching, Hagens naher Freund und gleichgearteter Arbeitsgenosse. Die Urschrift Runges gab Arnim in die Hände Clemens Brentanos, der damals auch mit der Absicht, Märchen erscheinen zu lassen, umging. Diese Absicht hatte keine Folge. Aber Büschings „Volks-Sagen, Märchen und Legenden“ und Grimms „Kinder- und Hausmärchen“ traten in dem einen Jahre 1812 hervor: jene früher, diese später. Beide Sammlungen enthielten die beiden Märchen Runges, dergestalt, daß uns für den Machandelboom Arnims Einsiedlerzeitung als der erste Druck, für den Fischer Büschings und Grimms Märchensammlungen als die ersten Drucke zu gelten haben. Das Urmanuskript Runges ist nicht wieder aufgetaucht.

Was die Brüder Grimm mit ihren Sammlungen geleistet haben, das empfindet man erst dann, wenn man ihre Ausgabe und die Büschings, mit der sie einzelne Stücke sogar gemeinsam haben, in Parallele rückt. Es sinkt alsdann der Irrtum, als ob die Brüder Märchen und Sage so aufgeschrieben hätten, wie sie aus dem Munde der Märchenerzähler ihnen zugekommen wären. Grimms Verdienst bestand vielmehr in der kunstgemäßen Stilisierung, in der litterarischen Wiedererschaffung längst vorhandener allgemeiner Stoffe. Das poetische Princip des Wunderhorns, nicht das wissenschaftlich-philologische, war geschäftig in ihnen. Sie erst gaben dem Märchen und der Sage ihre Form, wie Arnim und Brentano den zerfetzten Liedern aus dem Munde derer, die sie sangen. Der von ihnen geschaffene Stil beruhte auf dem Studium der älteren deutschen Poesie, deren unschuldige Weise sie dem modernen Empfinden anzupassen unternahmen. Es war der richtige Takt, von dem sie sich leiten ließen. Bei Büsching ist keine Spur von alledem zu finden. Er hat keinen Stil für Märchen, für Sage oder für Legende. Er weiß die Gattungen nicht zu scheiden. Wie gut gewollt, aber schlecht gekonnt ist, was er über sich und seine Stoffe dem Leser zu eröffnen hat. Wie wendet sich dagegen Grimms Blick in alle Tiefen und Höhen der Märchenpoesie. Bei Büsching läuft das Verschiedenste bunt durch- und nebeneinander her. So sagenungemäß z. B., wie sein Eingang zum „Wunderring im Hause derer von

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Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)