bleibt doch ein Manco. Der Charakter mag gewinnen, der Mensch verliert. Es giebt so viel Dinge, die mit ihrem stillen und ungewollten, aber eben dadurch nur um so nachhaltigerem Einfluß erst den richtigen Menschen machen. Das große, mit Pflicht-, Ehr- und Rechtsbegriffen ausstaffirte Tugendexemplar, ist unbedingt respektabel und kann einem sogar imponiren; trotzdem ist es nicht das Höchste. Liebe, Güte, die sich bis zur Schwachheit steigern dürfen, müssen hinzukommen und unausgesetzt darauf aus sein, die kalte Vortrefflichkeit zu verklären, sonst wird man all dieses Vortrefflichen nicht recht froh. Ich hatte das Glück, in meinen Kindheits- und Knabenjahren, unter keinen fremden Erziehungsmeistern – denn die Hauslehrer bedeuteten nach dieser Seite hin sehr wenig – heranzuwachsen und wenn ich hier noch einmal die Frage stelle „wie wurden wir erzogen“, so muß ich darauf antworten: „gar nicht und – ausgezeichnet“. Legt man den Accent auf die Menge, versteht man unter Erziehung ein fortgesetztes Aufpassen, Ermahnen und Verbessern, ein mit der Gerechtigkeitswage beständig abgewogenes Lohnen und Strafen, so wurden wir gar nicht erzogen; versteht man aber unter Erziehung nichts weiter, als „in guter Sitte ein gutes Beispiel geben“ und im Uebrigen das Bestreben, einen jungen Baum,
Theodor Fontane: Meine Kinderjahre. Berlin: F. Fontane & Co., 1894, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Theodor_Fontane_%E2%80%93_Meine_Kinderjahre.djvu/246&oldid=- (Version vom 1.8.2018)