Gefahren und die schlimmen Folgen, unkompromittierend, und vor allem: unanstrengend. Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.
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Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien Höhen, aus welchen die Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrem ursprünglichen „schwebenden“ Zustand zu verhelfen.
Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell. Der Vortragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen.
Die Gesetzgeber aber verlangen, daß der Vortragende die Starrheit der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wiedergabe für umso vollkommener, je mehr sie sich an die Zeichen hält.
Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen einbüßt,[1] das soll der Vortragende durch seine eigene wiederherstellen.
- ↑ Wie sehr die Notation den Stil in der Musik beeinflußt, die Phantasie fesselt, wie aus ihr die „Form“ sich bildete und aus der Form der „Konventionalismus“ des Ausdrucks entstand, das zeigt sich recht eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an E.T.A. Hoffmann, der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt. Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, hätten - so würde man folgern - in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst der Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen. Die Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer des Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlaf-wachenden Bilder - alles, was er mit dem präzisen Wort schon so eindrucksvoll schilderte, das hätte er - man sollte denken - durch die Musik erst völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen Hoffmanns bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/014&oldid=- (Version vom 1.8.2018)