Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste, sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst wird aus den alten Zeichen abgeleitet, sie bedeuten nun die Tonkunst selbst.
Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müßte ein und dasselbe Tonstück stets in ein und demselben Zeitmaß erklingen, so oft, von wem und unter welchen Bedingungen es auch gespielt würde.
Es ist aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegenteil. Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch immer mit einer Morgenröte. Große Künstler spielen ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten sie im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück - wie sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten - und immer nach den gegebenen Verhältnissen jener „ewigen Harmonie“.
Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den Schöpfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht, behält der Gesetzgeber recht.
„Notation“ („Skription“) bringt mich auf Transkription:
literarischen Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen wie ein übernommenes System von Taktarten, Perioden und Tonarten - zu dem noch der landläufige Opernstil der Zeit das Seinige tut - aus dem Dichter einen Philister machen konnte. Wie aber ein anderes Ideal der Musik ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausgezeichneten Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schließt die folgende Denkungsart dieses Büchleins am engsten sich an:
"Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende We1tgeist; nie kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht vernommen wurden sie im brausenden tosenden Geräusch des ausgelassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die unruhevolle Brust des Menschen hinabstrahlt."
(E.T.A. Hoffmann, "Die Serapionsbrüder".)
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/015&oldid=- (Version vom 1.8.2018)