dagegen aussprechen, daß eine physikalische Relativitätstheorie, die möglicherweise gewisse Eigenschaften der Naturgesetze richtig darstellt, mißverständlich zu einer Relativität des Erkennens erweitert werden soll, die das ganze Gebäude physikalischer Naturerkenntnis und damit vor allem die Grundlagen der Relativitätstheorie selbst erschüttern würde.
Das allgemeine Interesse, dessen sich die Relativitätstheorie erfreut, scheint mir nicht ausschließlich sich dem zuzuwenden, wo sie wirklich von Bedeutung werden könnte, falls die Folgerungen aus ihr Bestätigung finden sollten. So sehr man sich zu freuen Anlaß hätte, falls Interesse und Verständnis sich auf ein physikalisches Gebiet richten, so läßt sich doch die Besorgnis nicht unterdrücken, daß es nicht der physikalische, allein wissenschaftliche, Gedanke der Relativitätstheorie ist, der die Gemüter und Geister beschäftigt und anzieht.
Ich kann mich eines gewissen Zweifels nicht erwehren, ob die für die Physik bedeutungsvolle Frage der Ablenkung des Lichtstrahls durch die Sonne und der Verschiebung der Spektrallinien wirklich allein ein so großes Interesse hervorruft und ob nicht mehr gefühlsmäßige und unbestimmte Erwartungen dazu geführt haben, daß die Relativitätstheorie so viel in Volksversammlungen behandelt und daß so viel völliger Unsinn über sie geredet und gedruckt wird.
So sehr man wünschen muß, daß die wissenschaftlichen Ergebnisse, so weit sie sicher gestellt sind, Verbreitung finden und zur Kenntnis weiter Volkskreise gelangen, muß ich es doch offen aussprechen, daß mir hierfür bei der Relativitätstheorie die Zeit noch nicht gekommen scheint. Weder ist die Theorie noch sind ihre Ergebnisse durch die Erfahrung endgültig bestätigt. Eine allgemeine Erörterung von allem für und wider die Relativitätstheorie verbietet sich dadurch, daß dazu ungemein mannigfache Fachkenntnisse gehören. Mehr noch als für die platonische Schule gilt für die Relativitätstheorie
Wilhelm Wien: Die Relativitätstheorie vom Standpunkte der Physik und Erkenntnislehre. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1921, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:WienRel.djvu/27&oldid=- (Version vom 1.8.2018)