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III.

 Da die Eltern JEsu von Jerusalem wegzogen, sahen sie nicht nach dem Kinde JEsus, sondern meinten, ER wäre unter den Gefährten. Als sie nun in die nächste Nachtherberge kamen, fanden sie ihren JEsus nicht. Da trennten sie sich von ihren Reisegefährten, der schöne, freudige Heimzug der Festpilgrime, ihre Lieder, ihre Lobgesänge erfreuten sie nicht mehr, – ihr Herz war voll schmerzlicher Sehnsucht, sie suchten ihn eine Tagereise lang bei allen Freunden und Bekannten. – Die Schuld von diesen Schmerzen des Suchens und der Sehnsucht suchen manche an Maria selbst. Sie hätte, sagen sie, auf ihr Kind besser achtgeben sollen – und daraus leiten sie wohl gar Warnungen vor leichtsinniger Kinderzucht ab. Zu dergleichen Betrachtungen aber liegt im ganzen Evangelium kein Grund. Vielmehr müssen wir glauben, daß der zwölfjährige JEsus schon eine so treue, zuverlässige Seele gewesen sei, daß ER in allen Stücken schon so weise und einsichtsvoll war, daß Seine Eltern es als eine Schmach für Ihn würden angesehen haben, wenn sie Ihn gleich andern Kindern mit strengem Auge hätten beaufsichtigen wollen. Sie konnten Ihn bisher keines falschen, keines unvorsichtigen Trittes zeihen – darum war darin kein Fehl, daß sie, sich auf Seine eigene Weisheit verlassend, auch ohne Ihn bei sich zu sehen, ruhig weiterzogen. Eher war das ein Fehl, daß sie, als sie Ihn nicht fanden, Ihn so ängstlich suchten, ER war eines größeren Vertrauens wert. Doch auch über diese Angst ist nicht zu richten, da sie aus Liebe zu dem liebenswürdigsten Menschenkinde kam. Maria war keine leichtsinnige, aber eine überaus zärtliche und liebevolle Mutter des himmlischen Knaben.

 An einen unrechtmäßigeren Schmerz elterlicher Herzen aber erinnert die sehnsüchtige Angst der Mutter JEsu. Wenn manchmal der Geist des HErrn auf Söhne und Töchter fällt, daß sie die Wallfahrt zum Hause ihres himmlischen Vaters antreten, – wenn sie am ersten nach ihres Vaters Reich und Seiner Gerechtigkeit trachten, – wenn sie ihre weltlich gesinnten Eltern über dem Vater im Himmel und über dem