Seite:Wilhelm Löhes Leben Band 2.pdf/114

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Wert verlieh. Nicht als ob er ein Mann der wissenschaftlichen Exegese gewesen wäre – das war er nicht und maßte sich auch nicht an es zu sein, wol aber war er ein Meister jener keryktischen Exegese, von welcher Rudolf Stier mit Recht sagt, daß in ihr erst der Text mit seinem vollen Inhalt und dem Reichtum seiner Beziehungen zum Rechte komme. Es ist natürlich nicht möglich, dies an gegenwärtigem Ort mit Beispielen zu belegen. Wir müssen auf die im Druck erschienenen Predigten Löhe’s, namentlich auf seine Epistelpredigten, verweisen. Aber an einigen Einzelheiten möchten wir doch zeigen, wie gewissenhaft Löhe es mit der obersten Forderung, welche man an die Predigt stellt, der Forderung der Textgemäßheit, nahm. Bekanntlich erlaubte er sich zu diesem Zweck hie und da auch eine Correctur der lutherischen Übersetzung. Doch that er dies nicht aus Lust an Silbenstecherei, sondern nur dann, wenn die Ersetzung des freieren Ausdrucks durch einen knapper an den Wortlaut des Originals sich anschließenden der Erleichterung des Verständnisses diente oder sonst auch einen praktisch verwertbaren Vorteil bot. So z. B. übersetzte er ἀνεπίληπτος 1. Tim. 3, 2 mit „unantastbar“, weil dies deutsche Wort genau den Sinn des griechischen wiedergibt; das Wort νεόφυτος ebenda mit „Neubekehrter“, weil „Neuling“ härter klingt als der griechische Ausdruck. In einer Predigt über Phil. 4, 7 übersetzte er die Worte ἡ ὑπερέχουσα πάντα νοῦν „der Friede Gottes, der alle Vernunft überragt“, denn in dem griechischen Text liege gleichsam die Bemühung der Vernunft ausgedrückt, die sich höher und höher schwinge, den Frieden Gottes zu erfassen, der sich aber ihrer Bemühung ihn zu erreichen immer wieder entziehe, weil er weder begriffen noch gefühlt, sondern nur geglaubt werden könne. In derselben Predigt machte er darauf aufmerksam, daß das Verbum φρουρήσει nicht Optativ, sondern Futurum sei. In dieser viel

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Johannes Deinzer: Wilhelm Löhes Leben (Band 2). C. Bertelsmann, Gütersloh 1880, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6hes_Leben_Band_2.pdf/114&oldid=- (Version vom 1.8.2018)