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ihnen und andern zur schmerzlichen, aber lehrreichen Erfahrung zu zeigen, daß auch die geistige Begabung etwas ist, was dem Menschen ausgezogen werden kann, eben weil sie nicht zu dem gehört, was den sittlichen Kern der Persönlichkeit ausmacht. Daneben war dann doch auch, namentlich in Stunden, wo er sich körperlich wohler befand, ein Wiederaufleuchten der alten Geisteskraft wahrzunehmen. Es blitzten dann Gedanken auf von einer Kraft und poetischen Schönheit, die an seine besten Tage erinnern konnte. Ich entsinne mich namentlich einer Predigt vom II. Advent 1870 über Luc. 21, 25–33. Ein gewaltiger Orkan, der wenige Tage vorher über Neuendettelsau dahingebraust war – mit solcher Heftigkeit, daß er das Schieferdach des Betsaals abblätterte und den Dachstuhl zerstörte, bot, so zu sagen, den verjüngten Maßstab zur Vorstellung der vom HErrn „mit übermenschlicher Phantasie“ geschilderten Schrecknisse der untergehenden Welt. Die Frage wurde aufgeworfen, wie es denn der Gemeinde Jesu zu Mute sein würde inmitten einer vor Furcht und Erwartung der kommenden Dinge verschmachtenden Menschheit? Gewiß, lautete die Antwort, werde auch die Braut Jesu angethan werden von den Schrecknissen jenes Tages; dennoch aber werde ihr bei all dem Untergang und Graus um sie her zu Mute sein wie der Rahab, als sie die rote Schnur, das Unterpfand des Heils, in ihr Fenster knüpfte, oder wie der zu Ahasver hinzitternden Esther, bei der Furcht und Bangigkeit in dem Augenblick schwand, als der König gnadenvoll seines Scepters Spitze gegen sie neigte etc.

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 Selbst noch vom Jahr 1871 liegt mir die Nachschrift einer über das Evangelium des 4. Epiphaniassonntags gehaltenen Predigt vor, die Spuren seines Geistes zeigt. Er führte da in der Anwendung den Gedanken aus, daß wir in der Not nicht aufgeregt und unruhig wie die Jünger den HErrn um Hilfe anschreien, sondern im Glauben still und ruhig Seiner Hilfe warten sollen. „Wer den Glauben hat, meine lieben Brüder, der geht

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Johannes Deinzer: Wilhelm Löhes Leben (Band 3). C. Bertelsmann, Gütersloh 1892, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6hes_Leben_Band_3.pdf/325&oldid=- (Version vom 1.8.2018)