Seite:Zapolska Käthe.djvu/292

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Jetzt bedeckte sie nicht mehr das geschwollene Auge und enthüllte, ohne sich irgendwie Zwang anzutun, vor Käthe ihr ganzes physisches Elend, wie sie ihr vor einigen Monaten auch ihre moralische Armut nicht verborgen hatte.

Als Käthe ihr ein Glas heißen Tee mit etwas Milch und eine harte Brotrinde reichte, griff sie danach mit solcher Gier, als habe sie tagelang nichts gegessen.

So heiß trank sie den Tee, daß sie sich fast Zunge und Kehle verbrannte, und das Brot verschluckte sie in ganzen Stücken, ohne erst zu kauen.

Nicht genug konnte Käthe sich über diese ausgehungerte und so weit heruntergekommene Freundin wundern.

Mein Gott! Dachte sie doch, ein unglücklicheres Wesen, als sie selbst, gebe es nicht auf der ganzen Welt. Und jetzt überzeugte sie sich, daß es noch weit größeres Elend gab.

War diese Bettlerin wirklich jene stolze Rosa, die sie das letztemal im seidenen Kleide vor der mit den Resten von allerlei leckeren Speisen bedeckten Lade sah?

Wie damals jenen Überfluß, so konnte sie jetzt sich die Ursache dieses so plötzlichen Elendes nicht erklären.

Längst hatte sie die ihr zugefügte Kränkung vergessen. Dazu genügte schon der Anblick der unglücklichen, ausgehungerten und zerlumpten Freundin.

Voller Mitleid nahm sie ihr Tuch ab, den einzigen Schutz gegen die Kälte, um es auf Rosas spitzige

Empfohlene Zitierweise:
Gabriela Zapolska: Käthe. Berlin o. J., Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zapolska_K%C3%A4the.djvu/292&oldid=- (Version vom 1.8.2018)