Beschäftigung. Traurig saß ich an seiner Wiege, weil mir Bücher fehlten, denn an meinem Geburtsort auf der Meierei fand ich keine. Endlich machte die stürmische Gemüthsart meines Pflegevaters, daß wir den Ort verlassen mußten. Wir zogen nach Kirschtiegel, einem Städtchen im glogauischen Fürstenthume[WS 1], nicht fern von meinem Geburtsort. Meine Ältern pachteten ein Vorwerk, und ich ward eine Hirtin. Früh, ehe noch die Sonne den Thau trank, nahm meine alte wirthschaftliche Großmutter dreien Kühen die Milch, und dann trieb ich sie vor mir her, stolz auf die Zufriedenheit, die ich fühlte, wenn über meinem Haupte die Lerche ihren langtönigen Gesang fortsetzte. Ich genoß alle die Annehmlichkeiten des Sommers, und oft dachte ich mir kleine Geschichten aus, die den biblischen Historien ähnlich waren. Ich bauete Thürme von Sand, mauerte sie mit Steinen und stürmte sie mit hölzernem Geschoß darnieder. Ich führte in meiner rechten Hand einen Stab, und indem ich mit mir selbst redete, war ich das Haupt einer Armee! Alle Diesteln waren meine Feinde, und mit kriegerischem Muth hieb ich allen die Köpfe ab. Die Thaten Davids und der Mackabäer waren meine Muster, und es ergötzte mich, wie sie zu siegen. Nach vielen wichtigen Schlachten saß ich an einem Herbsttage am Rande eines kleinen Flusses und ward jenseits des Wassers einen Knaben gewahr, welchen einige Hirtenkinder umgeben hatten. Er war ihr Vorleser, und ich flog hin, um die Zahl seiner Zuhörer zu vermehren. Welch ein Glück für mich! Ich nahm in den folgenden Tagen einen Umweg, trieb meine Rinder durch den Fluß, wo er am seichtesten war und fand meine so lange entbehrte Wollust, die Bücher, wieder. Da waren Robinsons, irrende Ritter, Gespräche im Reiche der Todten; o da waren neue Welten für mich! Der Herbst verging mir zu bald; ich weinte, doch wir setzten unsere Versammelung fort. Ich schlüpfte, so oft meine Mutter mich verschickte, in das Haus des Hirtenknaben. Er war ein Äsop von Gestalt, aber seine Bücher waren desto schöner. Unsere Zusammenkünfte blieben nicht lange verborgen. Mein Stiefvater donnerte wegen meiner Lesesucht auf mich los! Ich versteckte meine Bücher unter verschwiegene Schatten eines Hollunderstrauchs und suchte von Zeit zu Zeit mich in den Garten zu schleichen, um meiner Seele Nahrung zu geben. Diese verstohlenen Vergnügungen dauerten beinahe ein Jahr. Meine Mutter übergab mich einem Bürgermädchen, um bei derselben mit der Nadel meine Übungen zu machen. Ich war gelehrig, denn in einem Sommer begriff ich verschiedene Wissenschaften der Näherin. Aber meine Lehrerin ward mir ungetreu; es fand sich ein bemittelter Witwer aus Polen bei ihr ein, der sie heirathete. Ich war unwillig über mein Schicksal! Meine einzige Zuflucht war das geliebte Buch, und schon hatte ich wieder vergessen, daß ich ein Mädchen war, als eines Tages ein prächtiger Jagdschlitten vor unserm Hause hielt. Ich erkannte meine Lehrmeisterin, trotz des karmoisintaftenen Pelzes, den sie trug. Sie sprang vom Schlitten herab, kam mit der Munterkeit einer Amazone, umarmte meine Mutter und verlangte mich zu ihrer Gesellschafterin. Ich lasse ihre Beredtsamkeit unwiederholt; genug sie überredete, und ich mußte noch denselben Abend mich reisefertig machen. Ich, die gleich einer jungen Spanierin den Kopf voller Abenteuer hatte, willigte in Alles.
Ich küßte meine Mutter und war stolz, auf einem so schönen Schlitten zu fahren; 2 Stunden vor Abends befanden wir uns an Ort und Stelle. In den ersten Wochen befand ich mich bis zum Überfluß
- ↑ Vorlage: Füstenthume
Anna Louisa Karsch: Leben der A. L. Karschin, geb. Dürbach. F. A. Brockhaus, Leipzig 1831, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitgnossen_3_3_Karsch.djvu/014&oldid=- (Version vom 1.8.2018)