der Tagüber arbeitet, lernt und lehret des Nachts; sie beten also auch wenig, weil sie studiren. Selbst die Schüler lehren ohne Bücher; auch in den Häusern der Aussätzigen lehren sie. Wer eine Woche gelernt hat, lehrt weiter, so daß ein Eisen das andere ziehet. Wer sich entschuldigt, daß er nicht lernen könne, dem sagen sie: „lerne täglich nur ein Wort, in Jahresfrist weißt du die Sprüche, und kommst weiter.“ Ich hörte von einem Rechtgläubigen, daß ein Ketzer, den ich kenne, Nachts in bösem Wetter durch den Fluß geschwommen sei, nur um ihn von unserm Glauben zu dem Seinigen zu verführen. Deßgleichen sah und hörte ich einen ungelehrten Bauer, der das ganze Buch Hiob von Wort zu Wort hersagte, und viele kenne ich, die das neue Testament auswendig wissen vom Anfange bis zum Ende. Sehen sie, daß jemand übel lebt, so sagen sie: „so lebten die Apostel nicht! so müssen auch wir nicht leben, die Nachfolger der Apostel.“
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1793, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_V.djvu/145&oldid=- (Version vom 1.8.2018)