jetzt unsern Kirchenmusiken einstreuen? Bei der einzelnen Strophe eines Liedes wird ja die Seele nie warm; man spüret, wenn die Strophe aufhöret, eine unangenehme Leere; und es bleibt bei diesen Zertheilungen Alles ein künstliches Flickwerk. Nicht also die ältere Kirche. Ihre Hymnen sind kurz; allemal aber von mehreren Strophen, und zu allen blieb ihr das Dreimalheilig ein Muster. Da es nun überdem ausser allem und über allen Widerspruch ist, daß unsre Poesie und Sprache gegen die Sprache unsrer Vorfahren zehnfach ausgebildeter worden; warum wollten wir fortfahren, nur zwo Saiten zu berühren, da wir ein Instrument von zwanzig, von hundert Saiten in unsrer Hand haben? Sehen wir nicht, daß ausser der Kirche die Musik erstaunende Fortschritte gethan hat, daß durch diese selbst das Ohr des Volks vieltöniger worden ist, und daß wir folglich nicht mehr wie unsre alten Vorfahren leyern und singen können, weil wir nicht mehr wie sie accentuiren, sprechen und leben?
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1793, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_V.djvu/327&oldid=- (Version vom 1.8.2018)