als ihrer eignen Sache annahmen, mit dem Lobe der Guten dagegen gar nicht zufrieden waren. Kaum wollte sie ihren Augen trauen, da sie sah, daß andächtige Männer die Andacht mißbilligen, gerechte Männer der Billigkeit entgegen streben, gelehrte Männer Wissenschaften verachten, das unterdrückte Volk seine Freiheit verabscheuen könne; sie stritt mit sich, und ward beinahe an sich selbst irre, daß sie mit ihrem Urtheil den besten Männern so habe mißfallen mögen.
Den Nebel zerstreuete ihr aber die edle Jungfrau, Rechtschaffenheit, tröstete die Unschuld und hieß sie mit der heitersten Stirn das unbilligste Gericht erwarten. Denn, sagte sie, wisse diese Maxime, Schwester: „Männer, die jeder für sich der Unschuld nichts anzuhaben wagen, können, wenn sie im Collegium oder sonst mit andern vereint sind, ohne Gewissen ihr Schimpf und Schande anthun.“
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1793, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_V.djvu/79&oldid=- (Version vom 1.8.2018)