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einer Art. Gerade weil Hekuba uns nichts bedeutet, bildet ihr Schmerz so ein vorzügliches Motiv für eine Tragödie. Ich kenne in der ganzen Geschichte der Literatur nichts Traurigeres als die künstlerische Laufbahn Charles Reades. Ein wunderschönes Buch hat er geschrieben, „The Cloister and The Hearth“, das so hoch über „Romola“ steht, wie „Romola“ über „Daniel Deronda“, und den Rest seines Lebens vergeudete er in dem törichten Streben, modern zu sein, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Zustände in unsern Strafgefängnissen und die Verwaltung unserer Privatirrenanstalten zu lenken. Charles Dickens war wahrhaftig deprimierend genug, als er versuchte, unser Mitleid für die Opfer der Armenbehörden zu erwecken; aber wenn Charles Reade, ein Künstler, ein Gelehrter, ein Mann mit wahrem Schönheitssinn über die Mißbräuche im Leben unserer Zeit wie ein gewöhnlicher Pamphletist oder ein Sensationsjournalist wütet und tobt, das ist wahrhaftig ein Anblick zum Steinerbarmen. Glaube mir, lieber Cyrill, Modernität der Form wie des Gegenstandes sind ganz und völlig von Übel. Wir haben irrig die gemeine Livree des Zeitalters für das Gewand der Musen genommen, und verbringen unsere Tage in den schmutzigen Straßen und häßlichen Vierteln unserer verruchten Städte, während wir auf den Höhen bei Apollo sein sollten. Gewiß, wir sind ein verkommenes Geschlecht und haben unsere Erstgeburt für ein Gericht Tatsachen verkauft.

Cyrill: An dem, was du sagst, ist etwas, und darüber ist kein Zweifel, wir mögen an der Lektüre eines lediglich modernen Romans noch so viel Vergnügen finden, wenn wir ihn wieder lesen, haben wir so gut wie keinen künstlerischen Genuß. Und das ist vielleicht

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/21&oldid=- (Version vom 1.8.2018)