Silhouetten aus der guten alten Zeit/2. Die Bauern in der Buttermilch
Ueberfluß bringt Uebermuth. Das haben die freien köllmischen Bauern von Lichtenau im großen Marienburger Werder bewiesen, als sie im Jahre 1380 ihren Landesherrn, den ehrwürdigen Hochmeister des deutschen Ordens, Winrich von Kniprode, bei sich zu Gaste sahen. Damals galt es, dem fürstlichen Herrn zu zeigen, welchen Segen sein weises Walten über das Land verbreitet hatte, und deshalb standen anstatt der Stühle zwölf bis zum Rande mit Gold gefüllte Tonnen um die reich besetzte Tafel. Es lag aber in dieser Ovation nicht allein ein dankendes Anerkenntnis für den wohlwollenden Landesherrn und seine edlen Vorgänger, welche es verschmäht hatten, aus dem heiligen römischen Reiche feudale Zustände nach dem Ordenslande Preußen herüberzunehmen, und welche von der belebenden Kraft der Freiheit für Bürger und Bauer durchdrungen waren, sondern auch ein ganz heilloser Bauernstolz. Dieser wurde genährt durch das Vorgehen der Hochmeister selbst; dieselben gingen bei der Colonisation des Weichseldeltas von Grundsätzen aus, welche uns mit Erstaunen erfüllen, wenn wir uns die Zustände in den damaligen Culturstaaten vergegenwärtigen. War es doch zu jener Zeit in Deutschland, England und Frankreich gesetzlich unstatthaft, daß freier Grundbesitz in bürgerliche und bäuerliche Hände kommen konnte, denn nur der Edelmann, der Ritter war der eigentliche Grundherr, der dominus eminens, dagegen war der Bauer nur Arbeiter, welcher von der Gnade des Gutsherrn abhing und ein höchst gedrücktes Dasein führte. Ein kurzsichtiger Fürst hätte dieselben ihm scheinbar günstigen Zustände in den neu erworbenen, ja theilweise sogar neu entstandenen Provinzen eingeführt, nicht aber so die Hochmeister des deutschen Ordens, denn sie fühlten ganz richtig, das ein kräftiger Volksstamm nur auf dem Boden der Freiheit gedeiht, und deshalb gaben sie den bäuerlichen Ansiedlern auch keine anderen Oberherren, als sich selbst, deshalb erließen sie den Anfängern die Grundsteuern (Zins) für fünf Jahre gänzlich und beanspruchten auch außerdem nur einige geringe Naturalleistungen. Dazu verliehen sie die eigene sogenannte kleine Gerichtsbarkeit nach freiem Kulmischem Recht und schufen überhaupt einen nach allen Richtungen hin freien und unabhängigen Bauernstand, welcher das neue Land bald in einen niemals geahnten Culturzustand versetzte. Dabei fühlten sich Fürst und Volk wohl, und die Dankbarkeit und Achtung war eine gegenseitige und aufrichtige während einer langen Zeit.
Leider hält jedoch die geistige Veredelung des Volkes nicht immer Schritt mit dem zunehmenden Wohlstande, und das traf auch bei den freien Köllmern von Lichtenau zu und verführte sie zu allerhand Narrenstreichen, als deren bleibendes Denkmal der in unserer Illustration abgebildete „Buttermilchsthurm“ im Volke angesehen wird. Dieser Thurm ist augenscheinlich (nach seiner Stellung zur Veste Marienburg zu urteilen) als ein detachirtes Fort oder als Theil eines solchen anzusehen. Er steht da als ein weit nach Norden bis an das Nogatufer vorgeschobener Posten, jedenfalls in früherer Zeit als ein Hauptwartthurm für die Besatzung der Burg, denn man übersieht von seinen Zinnen die ganze Gegend bis nach Danzig und Elbing, und der schweifende Blick wird nur gehemmt durch die hellglänzenden, sandigen Dünen der Ostsee. Diesen Thurm sollen die Freiköllmer von Lichtenau zur Strafe haben bauen müssen, und zwar soll sich dies so zugetragen haben:
Die Lichtenauer hatten den guten Landesherrn schon oft durch ihre Tollheiten geärgert. So hatten sie eines Nachts einen Bettelmönch [416] betrunken gemacht, dann sämmtliche Lichter in der Zechstube ausgelöscht und vor der Thür einen Sack aufgehängt. Als nun der fromme Bruder durch einen Heidenlärm aus dem Schlafe aufgeschreckt, noch trunken von Wein und Schlaf, zur Thür hinauseilen wollte, fiel er gerade in den Sack hinein, welcher von den harrenden Schelmen sofort zugebunden und in den Rauch gehangen wurde. Als Bedingung der Befreiung wurde ihm die Aufgabe gestellt, Eier zu legen und selbst aufzuessen, wahrscheinlich um ihm vor die Seele zu führen, wie viel schwerer es sei, Eier und dergleichen zu verdienen, als zu erbetteln. Zum Glück erbarmte sich ein frommes Mütterlein des jammernden Mönches, steckte ihm durch ein Loch im Sack einige Eier zu und gab ihm so zum nicht geringen Erstaunen und Ergötzen der gottlosen Bauern Gelegenheit, die ihm gestellte schwierige Aufgabe zu lösen. Dies Stückchen hatte ihnen wohl gefallen, denn bald nachher machten sie einen bettelnden Jacobsbruder, der mit Pilgermuscheln behangen als Bußprediger nach Lichtenau kam, ebenfalls im Kruge betrunken. Als nun der fromme Pilger in seiner Weinlaune heftig auf die argen Sitten der Bauern zu schelten begann und als einzige Möglichkeit der Absolution die Verabreichung eines guten Bratens bezeichnete, banden sie ihn an einen Bratspieß und begannen, den schreienden Bußprediger am Feuer zu drehen. Sie hätten ihn auch wohl wieder losgebunden, zum Unglück kam aber während dieser originellen Belustigung ein Hase durch die Hinterpforte in die Küche gesprungen, um zur Vorderthür wieder hinauszuhuschen, ein Ereigniß, welches das ganze Personal zu einer lustigen Jagd hinaustrieb. Als man in die Küche zurückkehrte, war der vergessene Jacobsbruder todt.
Heutzutage würden solche Streiche von dem Herrn Staatsanwalt wohl nicht übersehen werden, vielmehr mit einer schlimmen Lection im Zuchthause enden, damals gehörten jedoch solche Ausschweifungen zu den lustigen Schwänken, zu denen der milde Hochmeister höchstens bedenklich lächelnd den Kopf schüttelte, wenigstens geschah den wohlangeschriebenen reichen Lichtenauern, welche immer pünktlich ihren Zins und wohl noch etwas darüber zahlten, damals noch nichts.
Auch später, als sie einen Kesselflicker auf drei Tage in den Cadaver eines gefallenen Pferdes einnähten, so daß nur der Kopf heraussah, und als sie den Pfarrer zu einem angeblichen Kranken riefen, nachdem sie ein mit Bier betrunken gemachtes Schwein in das Bett gelegt hatten, wollte es der gute Fürst nur bei einem ernsten Verweise bewenden lassen und beauftragte mit der Ertheilung eines solchen den damaligen alten Hauscomthur in dem noch jetzt blühenden freundlichen Städtchen Neuteich, Andreas von Weitzeln, welcher auch mit vier Knechten nach Lichtenau ritt, um den fürstlichen Befehl auszuführen. Aber der kam ganz übel an, denn die Lichtenauer bohrten ein Loch durch die Stubenthür, zogen den langen Bart des greisen Comthurs hindurch und nagelten denselben auf der Innenseite fest. Da stand nun der ehrwürdige Herr, verlassen von seinen eilig entflohenen Knechten, stundenlang, bis endlich der Hochmeister einen ganzen Haufen Bewaffneter zum Entsatz schickte. Nun wurde strenges Gericht gehalten, es setzte harte Kämpfe, und mancher übermüthige Lichtenauer mußte sein Leben lassen. Die Haupträdelsführer wurden nach Marienburg geführt, und dort mußten sie den Buttermilchsthurm bauen, so genannt, weil ihn Hände aufrichteten, welche sich sonst mit der Bereitung von Butter und Buttermilch befaßten. Auffallend ist es, daß dieser Spottname erst viel später in den Chroniken auftaucht, denn der Thurm heißt in früherer Zeit stets der „schiebelichte“, von seiner kreisrunden Form. Es ist deshalb auch nicht unwahrscheinlich, daß der jetzige Name erst später entstanden ist, und zwar in Folge nachstehenden Vorfalles:
Zu der Zeit, als die polnischen Starosten in Marienburg residirten, sandte der Woywode Stanislaus Kostka hinaus nach Lichtenau, mit dem Ersuchen um ein Mäßchen guter Buttermilch. Die auch damals noch immer nicht gedemüthigten Freiköllmer sandten aber zum Hohn einen Oxhoft voll des Verlangten und ließen dies ungeheure Quantum durch eine besondere Deputation ihrer angesehensten Mitglieder überreichen. Diesen offenbaren Mangel an Ehrerbietung nahm der Woywode aber doch sehr übel und er ließ die Deputirten mit sammt der Buttermilch in den Thurm auf so lange einsperren, bis sie das große Faß geleert haben würden. Davon wird wahrscheinlich der Name herrühren, und es dürfte auch die Vermuthung wohl nicht zutreffen, daß der Kalk zum Bau des Thurmes mit Buttermilch angemacht gewesen ist.
Der Buttermilchsthurm steht noch heute mit einer Inschrift, welche der jetzt in Frankreich für das Vaterland gefallene verdienstvolle Ingenieurhauptmann von Gayl hat anbringen lassen; auch die Lichtenauer leben noch in wohlverdientem, großen Wohlstande auf ihren freien kulmischen Hufen, aber die Zeiten und die Sitten haben sich geändert, und es giebt keine Lichtenauer Streiche mehr.
Für die Verewigung des alten Bauwerkes sorgt die moderne Fortification, welche denselben mit dem Brückenkopfsystem an der neuen, über die Nogat führenden Eisenbahnbrücke in Verbindung gebracht hat. Vor uns sehen wir ihn im Bilde, aber wer Gelegenheit hat, mit dem liebenswürdigen Vorstande der uralten, von Winrich gestifteten Marienburger Schützengilde bekannt zu werden, der lasse sich den silbernen Humpen zeigen, den der von Pietät für das Alte und Gute erfüllte kunstsinnige König Friedrich Wilhelm der Vierte am 10. Juli 1854 bei Gelegenheit des fünfhundertjährigen Jubiläums der Gilde schenkte. Dieser Becher hat die Form unseres Buttermilchsthurmes und sein Inhalt faßt ein Quart Wein. Bei frohen Festen der Schützenbrüder kreist der Pocal von Mund zu Mund, und der Schreiber dieser Zeilen hat auch schon mit daraus getrunken.