Ein Bild aus der deutschen Gegenwart
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Nun, da unser Volk sich wieder einen Namen gemacht hat auf Erden, da wir etwas gelten unter den Menschen und, was höher anzuschlagen ist, selbst etwas auf uns halten, fühlen wir uns auch in erneuter Liebe, in gesteigerter Verehrung zu den Männern hingezogen, in denen unser nationales Wesen den treusten Ausdruck gefunden, die sich den Ehrenpreis verdient haben, unter den Deutschen die deutschesten zu sein. Zu ihnen wie zu Gipfeln unseres Volksthums, die der Wiederaufgang unserer Größe zuerst beleuchtet, blicken wir Anderen froh und stolz hinauf; wissen wir doch, daß, wie sie aus unserer Mitte aufgestiegen sind, wir Alle sie stützen und tragen, daß der Glanz, der um ihre Häupter spielt, auf uns selber freundlich zurückstrahlt. Deshalb geschieht es, daß wir heut durch Bild und Wort unseren Lesern die Gestalt Gustav Freytag’s entgegenführen, als eines alten guten Bekannten, den ein gemeinsames Geschick, das uns inzwischen betroffen, uns noch werther gemacht hat; denn freilich: wer wäre ihm nicht längst im Geiste begegnet? Von der Bühne her hat der Eine – bald ernst, bald heiter – die Stimme des Dichters vernommen, den Anderen hat der lebendige Zauber seiner Romane ein paar schöne Tage über den Drang gemeiner Wirklichkeit entrückt; den Historiker hat so Mancher nachdenklich in die Tage deutscher Vorzeit begleitet; die Mahnung des Journalisten endlich ist gar Vielen in’s Herz gedrungen, die vielleicht nicht einmal wußten, von wem sie ausgegangen. Nicht selten hat man ihn als den größten unserer heutigen Poeten, fast einstimmig als unseren ersten dramatischen Schriftsteller gefeiert; neben dem Lobe ist ihm dann auch Tadel nicht erspart geblieben, wie es Menschen, die sich schaffend regen, zu widerfahren pflegt.
Wir nun gedenken uns heut und hier solches Urtheils still zu begeben; diese Blätter sind der Ort nicht für eine ästhetische Abschätzung seiner Werke, so anziehend es sonst sein mag, seinem dichterischen Entwicklungsgange nachzuspüren, die Einwirkungen, die er etwa von Vorgängern oder Zeitgenossen erfahren, die Ziele, die er seinem Streben gesteckt, das Maß, in dem er sie erreicht, endlich das Verhältniß seiner Leistungen zu den ewigen, unwandelbaren Forderungen der Kunst in’s Licht zu setzen. Vielmehr liegt uns daran, seine nationale Stellung zu betrachten, und zwar nach den drei Seiten, in denen sie sich offenbart, daran zu erinnern, wie er einmal deutsches Wesen und Werden zum Gegenstande darstellender Geistesarbeit erkoren, wie er dann auch thätig an seinem Theile mit eingegriffen in die lebendige Gestaltung der vaterländischen Schicksale, wie er vor Allem selber in Sinn und Sitte, in der schlichten und doch edlen Erscheinung des alltäglichen Lebens sich zeigt als ein echtes Kind unseres Volkes. Zuvor wird ein rascher Blick genügen, uns die äußeren Momente seines Daseins in’s Gedächtniß zu rufen.
Gustav Freytag ist am 13. Juli 1816 zu Kreuzburg in Oberschlesien geboren; seit 1829 besuchte er das Gymnasium im nahen Oels, von wo er 1835 zur Universität Breslau abging. Es geschieht wohl heutzutage, daß man das landschaftliche Element in der Bildung des Menschen überschätzt, aber ohne Bedeutung war es doch keineswegs, daß Freytag dort am Ostsaume deutscher Ansiedlungen aufwuchs; im Gegensatze zur polnischen Nationalität, aus der sein Heimathsort sich als kleine deutsche Sprachinsel heraushebt, wie zur jüdischen – dort giebt’s allerdings noch eine solche – mußte sich das eigene Volksthum in ihm kräftigen und gleichfalls verdichten. „Soll und Haben“ ist von diesem muthvoll vordringenden, zukunftsgewissen Selbstgefühl des deutschen Ostgrenzers durchweht. Auch der Stammesart der Schlesier darf man wohl leichthin gedenken; so wenig ursprünglich sie sein mag, sie hat sich, wie es auf colonialem Boden bald geschieht, eigenthümlich entfaltet. Rührige Frische, lebhafte Empfindung, gemüthliche Laune, die sich selbst in der Mundart ausspricht, soweit man von einer solchen reden mag, das sind schlesische Eigenschaften, davon auch Freytag sein mütterlich Erbtheil erhalten, obwohl die unverwüstliche Heiterkeit seines Sinnes himmelweit entfernt ist von wirklichem Leichtsinn, daran so manches Talent jener Provinz zu Grunde gegangen. Zur Vollendung seiner Studien begab sich unser Freund nach Berlin; ihn beschäftigte besonders die froh aufstrebende Wissenschaft der deutschen Philologie, in Lachmann’s gedankenschärfender Unterweisung. Promovirt kehrte er nach Breslau zurück, wo er 1839 als Docent eben der deutschen Philologie auftrat und einige Jahre erfolgreich auch neuere und allgemeine Literaturgeschichte lehrte. Als man ihm aber die gewünschte Befugniß, auch rein historische Vorlesungen zu halten, versagte, wandte er sich von der Hochschule ab und lebte bis 1847 in Breslau in reichem geselligem Verkehr und vorwiegend poetischer Thätigkeit; seine Gedichte und ersten Dramen sind damals entstanden. Nach kurzem, geistig belebtem Aufenthalt in Dresden siedelte er 1848 nach Leipzig über und übernahm dort in Verbindung mit Julian Schmidt aus Kuranda’s Händen die Leitung der „Grenzboten“, die nun aus einem österreichischen Blatte zum deutschen wurden. Von da an bis heut ist er Journalist geblieben, stolz auf diesen unscheinbaren Namen, dem er freilich selber durch sein liebenswürdiges Lustspiel für alle Zukunft einen vollen, edlen Klang verliehen. Auch hat er alle die Zeit her seinen Wohnsitz in Leipzig ruhig behalten, nur daß er seit einer Reihe von Jahren die Sommermonate in Siebleben bei Gotha zubringt, wo er ein kleines ländliches Anwesen erworben. Dort hat ihm Herzog Ernst, der in den Tagen der Reaction die geistigen Häupter der nationalen Partei um sich zu sammeln bemüht war, in potitischen Nöthen die Hand geboten und zum äußeren Zeichen den Hofrathstitel zuerkannt. Die beiden letzten Jahrzehnte haben neben seiner journatistischen Thätigkeit seine Hauptwerke in Poesie und Wissenschaft gezeitigt: die Journalisten, die Fabier wie die Technik des Dramas, die beiden Romane, die Bilder aus der deutschen Vergangenheit und die Biographie Karl Mathy’s.
Ein Lebensgang, äußerlich ohne große Schickungen und jähe Wechsel, einförmig sogar, wenn man ihn etwa gegen die irrsalreiche Laufbahn des gleichgesinnten Freundes Mathy hält, die er so anziehend geschildert. Allein wer wüßte nicht, daß die wahre Geschichte des Dichters und Forschers im Binnenreiche seines eigenen Geistes abspielt? Was nun Freytag’s Dichtung angeht, so sehen wir unserem Vorsatze gemäß gerade von dem ihrer Zweige ab, dem er die emsigste Sorgfalt gewidmet und zuletzt die reifste Frucht abgewonnen: ich meine das ernste Drama; denn dies ist mehr als jegliche andere so zu sagen eine internationale Kunstgattung geworden. Fleißige Beobachtung der Natur unserer Bühne und tief eindringendes Studium der tragischen Meisterwerke vieler Zeiten und Völker, deren Ergebnisse Freytag in seinem trefflichen dramatischen Lehrbuche niedergelegt, haben ihn selbst zur Ueberzeugung geführt, daß gerade Stoffe aus der vaterländischen Historie für die Tragödie minder geeignet sind. So hat er denn auch zu seiner dramatischen Musterleistung lieber das römische Thema des Untergangs der Fabier erkoren, um darin die reinen Kunstgesetze zur Anschauung zu bringen, die ein menschliches Gemeingut sind; wiewohl sich natürlich im Geiste der Behandlung der deutsche Dichter nirgend verleugnet. Das Lustspiel dagegen thut allemal wohl, in’s nationale Dasein hineinzugreifen, und je unmittelbarer, desto besser. Wer hätte sich nicht auch um dessen willen an den „Journalisten“ schon herzlich erfreut? Es ist freilich keine breite, aber eine wichtige Seite des Volkslebens, welche sie poetisch verklären. Man bedenke nur, daß sie 1853 erschienen, wo fast alle Hoffnungen gescheitert waren und der dennoch zum Heile der Nation fortarbeitenden Kraft eben einzig der mühselige, tausendfach eingeengte Weg der Tagespresse noch offen stand. Wie Mancher erlag dabei der lauernden Feindschaft der Reaction, wie Viele verzagten ob der stumpfen Gleichgültigkeit des Publicums am Segen ihres Thuns! Da stellte Freytag mit der wundervollen Heiterkeit, die sein reiner Sinn ihm mitten in der dumpfen Stickluft der Zeit bewahrte, ein ideales und doch so treues Bild freisinniger deutscher Journalistik hin, in ihrem sittlichen Ernste, dem der kecke Uebermuth sprudelnden Humors nur dazu dient, die Seele unter all den kleinen Widerwärtigkeiten des Tages frisch und gesund zu erhalten. Und dabei darf man dies köstliche Gedicht keineswegs mit dem zweideutigen Namen eines politischen belegen, so fröhlich hoch schwebt es über allem vergänglichen Wesen und Unwesen des Augenblicks dahin. Das verheißt ihm unverwelkliche Jugend inmitten unserer schnell hinsterbenden, ja häufig todtgeborenen Komödien.
[411] Aber der Kreis jedes Dramas ist eng, auf ein nur individuelles Centrum sind alle seine Radien gerichtet; die ganze Weite und Tiefe unserer Weltanschauung, die bewegte Gestaltenfülle unseres Lebens vermag nur die dehnbare Kunstform des Romans in sich zu fassen. Durch „Soll und Haben“ und „die verlorene Handschrift“ ist Freytag der dichterische Darsteller deutscher Gegenwart im höchsten Sinne geworden. Beide Seiten bürgerlichen Lebens hat er verherrlicht: die thätig erwerbende, gütererzeugende, wie die geistig sinnende, der es verliehen ward, unvergängliche Werthe zu schaffen. Kaufmann und Gelehrter stehen da als Vertreter dieser Richtungen, aber welch ein Reichthum an anderen Gebilden ist um sie versammelt! Fern von den Geschäftsräumen und Studirstuben der Städte erscheint das arbeitsame Landleben, überhaucht vom frischen Athem einfacherer Natur. Was aber dies bunte und doch scharf gezeichnete Gemälde deutschen Wesens erst wahrhaft treu macht, ist die sittliche Hoheit der Gesinnung, die sich darin ausspricht. Anton Wohlfart und Felix Werner, diese Schöpfungen eines Dichters, den man im guten Sinne mit Fug realistisch nennt, tragen doch die ganze Idealität modern deutscher Ethik in sich. Diese unsere Sittlichkeit jedoch beruht nun einmal – niemand kann es leugnen – auf der Weltansicht des Bürgerthums; darum war gerade Freytag der Mann, sie dichterisch zu verkörpern, denn kein bürgerlicherer Sinn läßt sich denken, als der seine – „ehrlich“, das ist sein Lieblingsbegriff. Nicht aufzureizen etwa gegen Fürstentum und Adel ist seine Tendenz; was man so Tendenz nennt, dadurch hat er überhaupt als echter Künstler nie seine Werke verunstaltet. Er sagt nur, was er geschaut und erfahren; wohl kennt er den Bann, in den Vorurtheil und Standeszwang Fürsten und Edle schlagen, aber er weiß, daß kernhafte Tüchtigkeit oder menschliche Liebenswürdigkeit ihn zu durchbrechen vermögen. So steht neben dem sinkenden Geschlechte der Rothsattel die vornehme Seele Fink’s in schöpferischer Kraft, so tröstet Prinz Victor’s harmlose Frische über die düstere Verkommenheit seines fürstlichen Oheims.
Und welches nun ist das Ergebniß der Betrachtung unserer deutschen Gegenwart für Freytag? „So leben wir,“ ließ er im Jahr 1864 seinen Professor ausrufen; „viel Schwaches, viel Verdorbenes und Absterbendes umgiebt uns, aber dazwischen wächst eine unendliche Fülle von junger Kraft herauf. Wurzeln und Stamm unseres Volkslebens sind gesund. Innigkeit in der Familie, Ehrfurcht vor Sitte und Recht, harte, aber tüchtige Arbeit, kräftige Rührigkeit auf jedem Gebiet. In vielen Tausenden das Bewußtsein, daß sie ihre Volkskraft steigern; in Millionen, die noch zurückgeblieben sind, die Empfindung, daß auch sie zu ringen haben nach unserer Bildung.“ Wer in der Welt möchte heut diese stolzen und doch bescheidenen Worte Lügen strafen? Die höchste Freude, von der unser Freund weiß, ist darin ausgesprochen, „die Freude, unter einem Volke mit aufsteigender Kraft zu leben.“ Dessen aber inne zu werden, dazu bedarf es tiefer Kenntniß unserer Geschichte; nur aus dem Werden kann das Wesen begriffen und beurtheilt werden. Freytag gelang das durch jahrelange liebevolle Forschung; die „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ machen nun auch uns möglich, es ihm nachzuthun. Sie sind eine deutsche Geschichte, nach aller Strenge unserer kritischen Wissenschaft aus den Quellen geschöpft, und dennoch eine Geschichte, wie sie ein Dichter schreibt. Denn diesem ist überall der Mensch, die lebendige Einzelexistenz die Hauptsache, während sonst in historischer Betrachtung nur allzuoft das Individuum so gleichgültig erscheint, wie das schwingende Aethertheilchen, durch das die Wellenbewegung des Lichtes unverweilend hindurchzittert. So hat uns Freytag eine Geschichte des deutschen Volksgemüths geschrieben aus den absichtslos naiven Selbstbekenntnissen der einzelnen Gemüther. Er lehrt uns allenthalben seit den Tagen deutscher Urzeit „denselben Herzschlag erkennen, der noch uns die wechselnden Gedanken der Stunde regelt“, aber er zeigt auch, wie von Jahrhundert zu Jahrhundert sich die Seele des Einzelnen immer freier aus der gebundenen Unterordnung unter die Seele des Volkes gelöst hat. Wie unendlich viel großartiger mußte so unser Gesammtleben werden durch das auseinanderstrebende Wachsthum seiner Theile, die doch immer am Ganzen haften und aus ihm gedeihen, gleichwie die ausgreifenden Zweige des saftdurchquollenen Baumstamms! Ueber den Schluß dieser Bilder ward schon vor Jahren der Glanz der nun erfüllten Weissagung ausgegossen: „Es ist eine Freude geworden, Deutscher zu sein; nicht lange, und es mag auch bei fremden Nationen der Erde als eine hohe Ehre gelten.“
Was aber der Mensch nahe verhofft, das sucht er selbst arbeitend herbeizuführen. Freytag ist als handelnder Politiker wenig hervorgetreten – dem constituirenden norddeutschen Reichstage hat er angehört –, doch unermüdlich hat er seine rathende, anfeuernde oder warnende Stimme in der Presse laut werden lassen. Zweiundzwanzig Jahre lang hat er die „Grenzboten“ geleitet; seitdem er das liebgewonnene Blatt aufgeben mußte, ist er die Seele einer andern Wochenschrift geworden, die seit Beginn dieses Jahres unter dem freudigen Namen „Im neuen Reich“ rasch und glücklich emporgekommen ist. Es hieße die Geschichte der letzten Jahrzehnte erzählen, wollt’ ich sein politisches Wirken im Einzelnen darstellen. Denn überall, wie es Journalistenart und -Amt ist, hielt er sich an den vorliegenden concreten Fall, ja seine besondere, realistische Natur legte ihm diese weise Beschränkung noch näher als Anderen. Es giebt einen Liberalismus des Systems, der aus allgemeinen Lehrsätzen dem Urtheilen und Handeln des Augenblicks Maß zu geben sucht; consequent durchgedacht führt er eigentlich stets zu radicalen Anschauungen. Das ist nun Freytag’s Weise nicht. Unverrückbar fest ruht in seinem Innern allerdings der sittliche Geist, der auch in der Politik sein Thun und Denken ohne Wandel richtet. Sonst ist ihm angeboren nur der freie bürgerliche Sinn überhaupt, den keine Rücksicht auf rechenschaftslose Autorität, was für Art sie immer habe, bindet, kein Heiligenschein sich selbst bejahender Dogmen blendend verschüchtert; und weiter ist ihm unzerstörbar eigen die Liebe zur Nation, wie zu jeder ihrer echten, natürlichen Lebensformen. Von selber auch wuchs in ihm, dem Preußen, früh die Einsicht heran, welchen Weg die Nation zu ihrem Heile beschreiten müsse, von wannen ihr Hülfe kommen werde; die Zuversicht der Retterbestimmung Preußens, die Hoffnung auf Weisheit und Thatkraft seiner Herrscher hat ihn auch in den trübsten Stunden, die über unser Haupt gegangen sind, nie verlassen. Aus diesen Elementen setzt sich sein Urtheil in jedem Falle zusammen. Ist, was geschieht oder geschehen soll, sittlich gut, entspricht es den realen Bedürfnissen des Volkes und der Bildungsstufe, die es bisher erstiegen, liegt es endlich in der Bahn der allgemeinen nationalen Entwickelung? – das und keine anderen sind seine politischen Erwägungen; nicht der Widerspruch des kühnsten, genialsten und glücklichsten Machthabers vermöchte ihn darin irre zu machen. Braucht es der Versicherung, wie gewaltig ihn die Ereignisse des letzten Jahres ergriffen und erhoben haben? Des Krieges ist er unmittelbar Zeuge gewesen bis nach der Katastrophe von Sedan; er folgte dem Hauptquartier des kaiserlichen Kronprinzen, dem er persönlich nicht fremd ist. In die Zukunft blickt er vertrauensvoll hinaus, doch verschließt er das Auge nicht vor den Versuchungen und Gefahren, welche die neue, leider ungewohnte Größe unserem Volke entgegenbringt. Darin der Nation ein treu berathender Freund zu sein, mit willkommener oder unwillkommener Mahnung, dünkt ihm heilige Pflicht.
Wie er nun leibt und lebt, wie er nach Menschenloos sich abfindet mit Freud’ und Leid des wiederkehrenden und doch vielgestaltigen Tages – ich müßte bei ihm selbst in die Schule gehen, wollt’ ich es wagen, dies Bild aus der deutschen Gegenwart zu zeichnen. Ein paar leichte Umrisse jedoch mögen wenigstens andeuten, wie sehr es ein deutsches zu heißen verdient. Freytag steht noch in der Vollkraft seiner Jahre. Sein Wuchs ragt über Mittelmaß hinaus, er trägt sich fest und aufrecht, die allgemeine Wehrpflicht hat auch an ihm einst ihre stählende Zucht geübt. Die Züge seines Angesichts sind einfach und offen wie sein Charakter; die hohe, freie Stirn ist von schlichtem blondem Haar umrahmt, aus den lichtblauen Augen, deren Sehkraft nicht weit trägt, schaut doch Güte freundlich hervor. Schalkhafte Fröhlichkeit umspielt nicht selten seinen Mund, dann streicht er wohl einmal behaglich mit der Hand über den blonden Knebelbart. Seine Geberde ist gemessen, doch begleitet seine Rechte nachdrucksvoll die scharf betonten Sätze, wenn er aus ganzem Ernste der Seele spricht. So sehr er Gewalt hat über die Sprache, so einfach wählt er doch die Worte, Deutlichkeit und Wahrheit ist die Richtschnur seines Ausdrucks. Nur wenn er seinem Humor freien Lauf läßt, nimmt seine Rede buntere Färbung an, da läßt er denn wohl bisweilen auch heimische Laute vernehmen. Auch den leblosen Gegenständen, die uns umgeben, leiht er dann scherzend Odem und Empfindung, auch unvernünftigen Wesen Gedanken und allerhand neckische Absichten. Dieser Zug, an die gemüthvolle [412] Naturauffassung unserer heidnischen Altvordern gemahnend, tritt stark genug in „Soll und Haben“ hervor und steigert sich in der „Verlorenen Handschrift“ gar bis zum verhängnißvollen Mithandeln der dämonischen Hunde.
In Freytag’s Erscheinung herrscht ein wunderbares Gleichgewicht zwischen Anmuth und Würde, Haltung und Neigung. Heiterkeit und Wohlwollen begegnen sich in seinem Bezeigen mit der Strenge seiner sittlichen Anschauung. Wo das Gewissen in’s Spiel kommt, spricht er kategorisch; hat er moralisch verurtheilt, so ist sein Widerwille unbezwinglich. Sonst ist Höflichkeit des Herzens sein Element; wer ihm nahesteht, käme ihm zu keiner Stunde ungelegen; immer findet man ihn da sich selbst gleich, stets die nämliche warme Theilnahme am Ergehen des Anderen. Willkomm und Lebewohl kann Niemand herzlicher bieten. Er lebt in kinderloser Ehe und führt ein ungemein häusliches, fast eingezogenes Dasein; aber liebe Freunde zu empfangen und zu bewirthen ist seine beste Lust. Da läßt er etwas draufgehen in Schmaus und Trank; er, der für sich selber so schlicht wählt in Tracht und Geräth, der überall wenig bedarf, schilt in komischem Zorne, wer ihm nicht wacker Bescheid thut. Edle Weine dürfen ihm im Keller, gute Cigarren im Schranke nie aussterben; davon zu spenden macht ihn glücklich. Die beste Würze aber über Tafel ist sein Gespräch, dann blüht sein Scherz, dann strömt seine Erzählung. Die reichste und feinste Menschenkenntnis leuchtet daraus hervor. Vom fürstlichen Haupte bis zum wandernden Handwerksburschen oder dem ländlichen Tagelöhner seiner Gemeinde Siebleben herab hat er jede Art Leben anschauend erkannt; er hat gefragt und vernommen. Seiner Freunde sind viele über Deutschland hin, in allerlei Stellung, doch von einer Gesinnung. Wie er gedenkt und dankt, zeigt sein Leben Mathy’s; wie ihm jüngere Genossen anhangen, dafür geben Treitschke’s Worte Zeugniß. Mit seinem Verleger, Salomon Hirzel, steht er im vertrautesten täglichen Umgang; was Anderen nur ein Geschäftsverhältniß bedeutet, ist ihm Herzensverbindung.
Sein Interesse ist rege für Alles, doch das Vaterländische steht ihm immerdar obenan. Selbst der bildenden Kunst gäbe er gern eine Richtung auf nationale Stoffe; zur Musik allein hat er kein enges Verhältniß. Das Theater, das ihm so viel verdankt, besucht er doch fast nie mehr; in naher Zukunft nimmt er wohl keinerlei Aussicht wahr auf Erfüllung seiner Hoffnungen für den Aufschwung unserer Bühne. Wer die Schönheit und Klarheit seiner Naturschilderungen überdenkt, dem muß seltsam erscheinen, daß Freytag fast niemals spazieren geht; nur der Sommeraufenthalt bringt ihn beinah unwillkürlich in Berührung mit der lebendigen Landschaft. Dort sind auch hauptsächlich die letzten großen Werke seiner freischaffenden Einbildungskraft entstanden. Den Winter über in Leipzig, ist er dafür um so eifriger journalistisch und wissenschaftlich thätig. Wie seine Kenntniß unserer Culturgeschichte, so ist auch die Sammlung ihrer Quellen, die er nach und nach sorgsam erworben, für einen Privatmann einzig zu nennen; an seltenen Flugschriften ist sie ungewöhnlich reich; noch täglich ist er bemüht, sie zu vervollständigen. So verfließt ihm das Leben: die Vergangenheit seines Volkes zu erforschen, seine Gegenwart dichtend zu verschönern, an seiner Zukunft bauen zu helfen – das ist die Summe seines Daseins. Siehe, ein rechter Deutscher, in welchem kein Falsch ist!