Spaziergänge in chinesischen Arbeitervierteln
Spaziergänge in chinesischen Arbeitervierteln
An den „Sehenswürdigkeiten“ chinesischer Städte, an Tempeln, Pagoden und Ehrenpforten, hat sich der Europäer gewöhnlich bald satt gesehen, denn der großen Mehrzahl nach sind sie von einem ewigen Einerlei. Kam ich im „Reiche der Mitte“ in eine mir noch unbekannte Stadt, so bangte mir gewöhnlich schon vor dem Confuciustempel oder der Pagode, die ich besichtigen sollte. Was wirklich interessant wäre wie die Kaiserpaläste und Ahnentempel in Peking, ist nicht zugänglich, und wo diese Kaiserpaläste und Tempel wirklich zugänglich wären wie in Nanking, sind nur noch traurige Ruinen davon übrig.
Weit interessanter als diese Bauten in den chinesischen Städten ist das Leben und Treiben ihrer Einwohner, darunter vor allem die chinesische Industrie. Nach dem allgemeinen Ueberblick, den der Aufsatz „Ein Tag in China“ in Nr. 47 des vor. Jahrg. der „Gartenlaube“ den Lesern geboten, darf ich bei ihnen für eine Schilderung meiner im vorigen Jahre persönlich gesammelten Eindrücke auf ebensoviel Verständnis wie Interesse rechnen. Kam ich in eine chinesische Stadt, so ließ ich mich von meinem Dolmetscher gewöhnlich zuerst in die Geschäftsstraßen führen, wenn die engen, dunklen, feuchten Gäßchen der meisten Städte den Namen „Geschäftsstraßen“ überhaupt verdienen würden. Allerdings war ich selbst dort viel mehr der Gegenstand der Neugierde, als es die Chinesen für mich waren. So lange ich mich mitten durch das rege Gewühl und Gedränge fortbewegte, beschränkte sich mein neugieriges Gefolge gewöhnlich nur auf etwa ein Dutzend Personen; blieb ich irgendwo stehen, so verdoppelte sich der mich umdrängende Menschenhaufen, und begann ich gar durch meinen Dolmetscher zu fragen oder zu feilschen, dann schrieen die bezopften Straßenjungen vor lauter Verwunderung und lockten noch die Menschen aus den Seitengäßchen herbei. In der ersten Zeit war mir diese schmutzige, zerlumpte Gesellschaft in hohem Grade lästig, aber später gewöhnte ich mich daran. Bei solchen Gelegenheiten kam mir immer der erste Chinese in Sinn, den ich als kleiner Junge in Europa gesehen habe. War ich ihm dort etwa nicht ebenfalls nachgelaufen? Wurde er nicht durch böse Gassenjungen geneckt und beim Zopfe gezupft und ausgelacht? Jetzt zahlten seine Landsleute mir diese Neugierde zurück.
In Canton kümmern sie sich um die Europäer wenig mehr. Canton, diese größte Stadt des „Reiches der Mitte“, ist an Europäer schon seit dreihundert Jahren gewöhnt, man sieht ihrer dort viel mehr als in anderen Städten Chinas, und das Gefolge beschränkt sich gewöhnlich nur auf ein halbes Dutzend Menschen, die man sich hier auch leichter vom Leibe halten kann. Dazu ist Canton das Paris, oder ich möchte lieber sagen, das New York von China, Peking ist sein Washington. Canton ist der Hauptsitz der chinesischen Industrie; Hunderttausende sind dort mit der Anfertigung von Waren beschäftigt, die auf zahllosen Dschunken und Kanalbooten, auf dem Rücken von Mauleseln oder Lastträgern durch das ganze Reich geführt werden; in Canton sind die geschicktesten Arbeiter, die reichsten Kaufleute, die schönsten Läden, und wohin ich auch kam, nach Ningpo und Hangtschou, nach Tschingkiang und Sutschou und Wuhu, Städte in Nord und Süd – in den Industrievierteln fand ich mit geringen Abweichungen doch nur den Abklatsch des industriellen Lebens von Canton. Es ist in dieser Hinsicht die Hauptstadt Chinas, alles andere Provinz.
Gerade wie es in vielen Städten Europas der Fall ist, so sind auch in den chinesischen Städten die einzelnen Industrien gewöhnlich in bestimmten Quartieren zu finden; hier eine Gasse, vielleicht ein bis zwei Kilometer lang, gefüllt mit Goldarbeiterläden, die sich dicht aneinander reihen, so daß ich oft gar nicht wußte, ob ein Schaukasten zu dem einen oder dem anderen Laden gehörte; bog ich um eine Straßenecke, so befand ich mich vielleicht im Viertel der Fächerfabrikanten, in der nächsten Straße in jenem der Möbeltischler etc.
Ein Haus gleicht dort dem andern: das untere Stockwerk wird ganz von dem Geschäft eingenommen, das von der einen Hauswand zur anderen offen steht, um das in den düsteren Gäßchen an und für sich spärliche Licht einzulassen; im oberen Stockwerke sind die Wohnungen, und vor jedem Hause baumeln die roten, gelben, goldenen ober schwarzen langen Schilder herab, mit gewöhnlich vergoldeten oder schwarzen Schriftzeichen; ein Wald von Schildern, der jeden Ausblick verhindert, das Sonnenlicht ausschließt und die Gäßchen selbst in ewige Dämmerung hüllt, während die Schilder darüber glitzern und glänzen. Man [587] denke sich nur sämtliche Firmentafeln des Wiener Grabens, oder der Berliner Friedrichstraße, statt an den Häusern befestigt, vor denselben von Stangen der Länge nach herunterbaumeln! Unten in den Gäßchen ein ewiges Gewoge und Getriebe, ein Lärmen und Schreien und Stoßen und Drängen, ein Hin- und Herzerren und Schieben und Drücken von Zehntausenden bartloser, langbezopfter halbnackter Gestalten, alle auf der Jagd nach Erwerb, alle im Kampf ums Dasein. Rechts und links in den kleinen finsteren Gewölben aber wird gehämmert und geklopft, gesägt und gefeilt, ohne Unterlaß vom Morgengrauen bis zur anbrechenden Dunkelheit. Ueberall wird so emsig gearbeitet, als gälte es, Bestellungen auszuführen, die unbedingt am Abende fertig sein müssen. Welcher Fleiß! Welche Unermüdlichkeit des Schaffens!
In diesen Industrievierteln Cantons wie anderer chinesischen Städte sah ich niemals die Menschen rasten und ruhen, ausgenommen, sie lagen still und tot unter dem weißen Leichentuche, aufgebahrt in denselben Läden, in denen sie ihr ganzes Leben in rastloser Arbeit verbracht hatten. Herrschte doch gerade während meines Aufenthaltes in Canton die sibirische Beulenpest, diese furchtbare Epidemie, welche täglich Tausende fortraffte! Aber in den Läden ringsum wurde dabei doch rastlos gearbeitet, obschon niemand wußte, ob nicht die Arbeit unter seinen Händen seine letzte war, ob nicht der tückische Tod sich ihn als nächstes Opfer ausersehen hatte! Wanderte ich durch diese Straßen, Kampfer im Munde und ein mit Kampfergeist getränktes Taschentuch vor der Nase, so vergaß ich über dieser Emsigkeit des Schaffens selbst die furchtbaren Verhältnisse, die eben in Canton herrschten. Ich war der einzige Spaziergänger, der einzige Müßiggänger unter all diesen Zehntausenden und hätte mich selbst hinsetzen mögen, um mitzuthun! Betrachte ich heute die Dutzende von Sachen, die ich auf meinen Spaziergängen in den chinesischen Städten erworben habe, dann sehe ich im Geiste auch die Arbeiter vor mir, die sie verfertigten, diese halbnackten, schweißtriefenden, emsigen Gestalten, wie sie stumm, ihrer Arbeit vollständig hingegeben, auf dem feuchten Boden kauern, und der höchst eigentümliche Geruch, der all den Industriestädten Chinas eigen ist, haftet auch meinen Fächern und Stickereien, Stoffen und Gerätschaften noch heute an. Entfalte ich eine der herrlichen Stickereien, so ist bald mein ganzes Zimmer mit diesem berauschenden moderigen Duft geschwängert, ein Gemenge von Opium-, von Sandelholz- und Theegeruch. Er ist unangenehm, bedrückend, ich möchte sagen Furcht einflößend. Er erinnert an Grüfte. Es sind ja in der That Grüfte, in denen die großen Massen der Chinesen arbeiten, und auch ihre Arbeit ist furchteinflößend. Wie, wenn diese Hunderte von Millionen fleißiger Menschen ihre althergebrachten Werkzeuge fortwürfen und zu unseren modernen Arbeitswaffen, zu unseren Maschinen, griffen? Wie, wenn ein industrieller Li Hung Tschang den rastlosen Fleiß, die Fertigkeit dieser größten Arbeiterarmee der Welt gegen die unserige, europäische, ins Feld führte und in China Hunderte von Fabriken, von Hochöfen und Gießereien schaffen sollte? Was würde dann aus uns?
Dieses Gedankens konnte ich mich niemals erwehren, wenn ich die Chinesen bei der Arbeit sah, und als Europäer, als Weißer, dankte ich im stillen der Vorsehung, daß sie den Chinesen wohl Fleiß, Enthaltsamkeit, Kraft, Geschicklichkeit, aber keinen – Fortschrittsgeist gegeben hat! Wie vor Tausenden von Jahren, so arbeiten sie heute noch mit den gleichen rohen Werkzeugen, und ich kaufte mir in China dieselben Fläschchen, die man unter den Pyramiden in den Gräbern der alten Aegypter gefunden hat – Artikel, welche die Chinesen damals in alle Welt versandten, bis andere Völker, andere Kulturen des Abendlandes als ihre Konkurrenten auftraten und sie vom Markt verdrängten. Aber droht die mongolische Flut nicht von neuem wieder über das Abendland hereinzubrechen?
Nicht so bald! Der konservative Zug der Chinesen, die Achtung vor dem Althergebrachten schützt uns noch für lange Zeit vor ihnen. Kennen sie doch die Europäer schon seit Jahrhunderten und ihre Werkzeuge, ihre Maschinen, ihre praktischen Arbeitseinrichtungen schon seit Jahrzehnten. Die weißen Barbaren brachten ihnen bequeme Arbeitswaffen, einfach, leicht, der doppelten Leistung fähig, aber die Mongolen ließen sie unbeachtet und arbeiteten mit den alten plumpen schweren Werkzeugen weiter, dabei möglicherweise besser, sorgfältiger als wir mit unserer praktischen Schulung und unseren praktischen Werkzeugen. Man sehe sich nur ihre Bronzen, ihre Holzschnitzereien, ihre Lackwaren, Porzellane, Möbel an! Jeder Artikel ist das Werk einer einzigen Familie, vielleicht eines einzigen Arbeiters, denn Arbeitsteilung kennt der Chinese nicht. Sang Ding oder Han Tschang hat möglicherweise die Form für seine Bronze selbst modelliert, die Metallmischung und den Guß vorgenommen; er hat selbst mit dem Stichel die einzelnen Figuren ciseliert und emailliert, vergoldet und vollendet. Sang Ching macht nicht etwa nur die Holzarbeit eines Möbels. Er webt die Stoffe, macht die Stoffmuster, das Gerippe des Möbels, schnitzt kunstvolle Verzierungen, lackiert und tapeziert selbst. Mag man über die bizarren Formen dieser uns fremdartig berührenden Erzeugnisse lächeln, jedes Stück hat doch einen gewissen Charakter und zeigt etwas Individuelles. Maschinen wurden schon vor fünfzig Jahren eingeführt, und die Engländer boten alles Erdenkliche auf, sie unter die Leute zu bringen, aber die Chinesen nahmen nur solche an, welche kraftspendend waren, andere jedoch, welche die Handarbeit selbst übernehmen und vollkommener verrichten, wie z. B. die Nähmaschinen, wiesen sie zurück. Tausend Fächer, einander so gleich wie ein Ei dem anderen, werden Stück für Stück, Blatt für Blatt von einem einzigen Arbeiter geschnitzt, gebunden, gemalt und verkauft. Reichen bei größeren Arbeiten die Hände nicht aus, so werden die Füße, die Zehen zu Hilfe genommen, und mancher Chinese leistet mit seinen Zehen Besseres als mancher Weiße mit seinen Händen. Sie haben ein erstaunliches Geschick; jeder einzelne ist ein Meister Hämmerlein. In manchen chinesischen Dörfern fand ich keinerlei Kaufläden, und als ich mich erkundigte, wo denn die Menschen ihre Stoffe, Schuhe, Gerätschaften u. s. w. hernähmen, hieß es, sie verfertigen sie selbst. In Bauernhäusern fand ich uralte Webstühle, vor den Häusern saßen Frauen, die Kleider nähten, hockten Männer, die Sandalen flochten. Ist etwas zu besorgen, wozu ihnen die Werkzeuge fehlen, so rufen sie irgend einen der wandernden Handwerker. Schmiede, Flickschneider, Schuster, Barbiere, Gewerbtreibende aller Art wandern von Ort zu Ort, gerade so, wie ich es auch in Korea getroffen habe – ich darf dafür auf mein Buch über Korea (Dresden, C. Reißner) verweisen – und wie es bei uns die Scherenschleifer thun. Wo sie Arbeit finden, wird Halt gemacht, das Ränzlein ausgepackt und gearbeitet. Auf dem Wege von Zikawei nach Sutschan begegnete ich einem Schmied, der eben im Begriffe war, seine ambulante Schmiede einzurichten, um einige Flickarbeiten zu besorgen. Statt wie bei uns die Ränzchen auf dem Rücken zu tragen oder einen Handwagen mit sich zu führen, schieben die chinesischen Handwerker ihre Siebensachen auf einem unförmlichen Schubkarren vor sich her, oder sie verteilen sie in zwei flache Körbe und hängen diese an die beiden Enden eines mannslangen armdicken Bambusrohres, das sie auf den Schultern oder am Nacken tragen. So befördern sie meilenweit Lasten, welche wir nicht hundert Schritte weit tragen würden, ohne erschöpft zu sein. Mein guter Schmied hatte an dem einen Ende des Bambusrohres einen Blasbalg hängen, an dem ein unförmiges Stück Eisen, sein Ambos, festgebunden war. Am anderen Ende hing ein schwerer Korb mit alten Eisenstücken, Werkzeugen und einem Kohlensack. Darüber thronte eine Pfanne und ein irdener Topf. Während ich meinen „Tiffin“ (Gabelfrühstück) einnahm und ein wenig ruhte, beobachtete ich seine Thätigkeit. Er legte den Ambos auf einen Stein, den er zuvor mit etwas feuchter Erde bedeckt hatte, holte die Pfanne hervor, die er mit Kohlen füllte, fügte durch eine Oeffnung in der ersteren den Blasbalg ein und begann das Feuer anzufachen. Dann füllte er den Topf in dem nahen Kanal mit Wasser, und nun sah ich erst, daß er im Begriffe war, zuerst seine Mahlzeit zu kochen, denn er warf eine Handvoll gepreßtes Seegras in den Topf, dazu eine Menge gekochten Reis. Mit einem Appetit, als wäre es Trüffelragout, verschlang er dann dieses Gemengsel, und derselbe Topf diente ihm später zum Abkühlen der Eisenstücke und Gerätschaften, die ihm von den Einwohnern zur Ausbesserung gebracht wurden.
In den Städten halten sich diese wandernden Künstler länger auf; sie bleiben stunden- auch tagelang an irgend einer Mauer hocken und warten auf Kundschaft. In Tschinkiang am Jangtsekiang wohnte ich einer ergötzlichen Scene bei. Es war gerade großer Festtag, die Feier irgend eines Provinzheiligen, und in der Stadt drängten sich viele Tausende von Landleuten aus der ganzen Provinz. Ein zerlumpter struppiger Mongole kam durch die Hauptstraße gewandert und kauerte vor einem an der Schattenseite im Freien thätigen Barbier nieder. Bevor er sich seinen Schädel kahl rasieren ließ, zog er seine blaue Aermeljacke aus und warf sie [588] einer wandernden Flickschneiderin zu, die vor seinen Augen mitten auf der Straße die Schäden ausbesserte. Da kam ein Flickschuster mit seinem Schnappsack herbeigelaufen, und wie in England die Bootblack- (d. h. Stiefelwichs-) Jungen, so wies auch dieser mongolische Crispinusjünger beharrlich auf die Schäden an den Filzschuhen des Chinesen. Nach längerem Geschrei und Geplapper schienen die beiden handelseinig; der Schuster zog dem Chinesen die Schuhe ab, setzte sich neben das Flickweib und begann nun seinerseits, Lederflecken auf die Löcher der Fußbekleidung zu setzen.
Leder findet in China bei weitem nicht die ausgebreitete Verwendung wie bei anderen Völkern. Lederschuhe sieht man fast gar nicht, denn die Fußbekleidung der ärmeren Klassen besteht aus Strohsandalen, jene der bemittelteren aus Seide, mit Filzsohlen.
In gar manchen Industrien sind uns die Chinesen wie gesagt trotz ihrer primitiven Werkzeuge ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Ihre Silberarbeiten sind bewundernswert; einzelne Arbeiter modellieren, schmieden und vergolden die herrlichsten Vasen, Prunkbecher, Blumenhalter etc. mit Hunderten von getriebenen Figürchen, kaum ein oder zwei Centimeter groß, aber so zart gearbeitet, daß man die Gesichtszüge und den Faltenwurf der Gewänder daran unterscheiden kann; dann werden diese Arbeiten von denselben Künstlern noch ciseliert.
Noch zarter und künstlerischer sind die herrlichen Stickereien. Viele Tausende von Männern und Frauen sind in Canton mit Stickarbeiten beschäftigt, die auch in großen Mengen nach Europa ausgeführt werden und hier willige Abnehmer finden. Monatelang wird manchmal an einem Stück gearbeitet; die Blumen, Vögel, Schmetterlinge etc. werden ihnen nicht vorgezeichnet; sie arbeiten direkt nach dem Muster auf der Seide und führen bestimmte Stickereien auf beiden Seiten derselben aus, wobei sie die Enden der Fäden so geschickt verarbeiten und verstecken, daß man sie nicht entdecken kann. Die schönsten Muster werden in Seidenstoffe auf ganz einfachen Webstühlen eingewebt. Mit den Geheimnissen der Färberei sind sie, obwohl sie von der Chemie als Wissenschaft keine Ahnung haben, wohl vertraut, und die von ihnen gefärbten Stoffe halten die Farben besser als diejenigen, die sie von Europa geliefert bekommen. In der Zartheit und Genauigkeit von Holz-, Elfenbein- und Steinskulpturen stehen sie unerreicht da. Mit großer Findigkeit benutzen sie z. B. in geädertem Marmor die dunklen Adern, in Astholz die Astknoten für die Zwecke ihrer Arbeit; aus einer knorrigen Wurzel schneiden sie im Handumdrehen einen langbärtigen Götzen, aus einem vielkantigen Speckstein einen grotesken Alten, wobei ihnen die Auswüchse und Vorsprünge des Materials eher förderlich als hinderlich sind. An Häuserfronten, Thüren, Wänden, Möbeln bringen sie derlei Skulpturen an, wo sich nur Platz bietet, schneiden, polieren, vergolden und bemalen sie mit großer Kunst, aber sie verstehen es nicht, den Figuren die richtigen Verhältnisse, landschaftlichen Darstellungen die Perspektive zu geben. Das zeigt sich auch bei ihren Malereien. In Canton fand ich Tausende mit dem Bemalen des sogenannten Reispapiers beschäftigt, eine Eigenartigkeit der chinesischen Industrie. Dieses vermeintliche Reispapier, zart, blendend weiß, sehr gebrechlich und federleicht ist keineswegs Papier, sondern das Mark einer Abart des Brotfruchtbaumes, das sehr sorgfältig herausgeschnitten und dann mit dünnen breiten Messern in ganz dünne Scheiben geschnitten wird. Auf diese Scheiben malen die Chinesen mit Wasserfarben alle möglichen Bildchen aus dem Volks- und Familienleben, Porträts, Landschaften etc.; aber sie haben es nicht gelernt, den Bildern Schatten zu geben, ja in einem Porträt wird beispielsweise die Schattierung als Fehler angesehen; bei Darstellungen von Landschaften denken sie sich dieselben nicht von einem einzigen Standort aus gesehen, sondern sie verändern denselben jeweilig und malen also eine entfernt stehende Person ebenso groß und mit ganz denselben Einzelheiten wie eine nahestehende, nur stellen sie die letztere tiefer, die entfernt stehende höher im Bilde.
In der Mehrzahl der Städte, selbst der kleinsten, werden Seidenstoffe gewebt, aber nirgends befindet sich eine Fabrik in unserem Sinne des Wortes; die Seide wird in einzelnen Familien verarbeitet, deren wertvollste Habe ihr unförmiger Webstuhl bildet. Und doch verstehen diese armen, unwissenden Mongolen bessere Seidenstoffe zu machen als wir. Die Worte Seide (Setum), Satin, Senshaw, die heute in der ganzen Welt eingebürgert sind, stammen aus dem Chinesischen, wo sie Sse, Ssetun und Ss’inscha heißen. In Nanking ließ ich mich in die berühmte kaiserliche Seidenfabrik führen, wo die Seide für den kaiserlichen Hof in Peking sowie für die Ahnen- und Götzenopfer angefertigt wird, gewaltige Mengen, denn in Peking werden für Opferzwecke jährlich dreißigtausend Stück Seide allein verbrannt! Statt einer Fabrik fand ich dort eine Reihe schmutzstarrender dunkler Räume und in jedem einen plumpen vorsündflutlichen Webstuhl; aber auf diesen entstanden allmählich unter meinen Augen die herrlichsten Damastbrokate, welche am chinesischen Kaiserhofe die Bewunderung der Gesandten in so hohem Grade erregen!
Welche Künstler die Chinesen in Bezug auf das Porzellan sind, ist ja bekannt; von China kam die Porzellanfabrikation auch nach Korea und von dort nach Japan, wo man heute vielleicht noch zarteres Porzellan macht wie in dem eigentlichen Mutterlande desselben.
Ob es wohl bekannt ist, daß der Name „Porzellan“ nicht aus diesem letzteren, sondern aus dem – Portugiesischen stammt? Als die Portugiesen vor drei Jahrhunderten die zarten durchscheinenden gebrechlichen Theetassen zum erstenmal sahen, hielten sie das Material für geschliffene Perlmuttermuscheln, im portugiesischen Porcellana genannt, und dieser Name blieb dem Porzellan in den meisten Ländern und Sprachen bis auf den heutigen Tag.
Papier war ihnen schon im ersten Jahrhundert vor Christo bekannt, aber gerade so wie damals machen sie es heute noch aus Bambusfasern, die sie in einem großen Mörser zerstampfen und mit etwas Baumwollfaser mischen. Sie selbst betrachten das koreanische Papier als das beste, und bis auf die jüngste Zeit bestand ein Teil des Tributs, welchen Korea an den Kaiser von China zu zahlen hatte, in Papier. Aus derselben Zeit stammt die Erfindung der Tusche, die sie immer noch aus denselben Stoffen, Oel-, Kohlen- und Fichtenholzruß (also nicht etwa aus dem Tintenfisch, wie es in Europa vielfach angenommen wird), erzeugen. Vielfach wurde von seiten der Europäer in China versucht, besonders bei Artikeln, welche nach Europa ausgeführt werden, den Chinesen billigere Erzeugungsmethoden beizubringen, aber sie bleiben mit rührender Beharrlichkeit bei ihren althergebrachten Methoden, wie sie möglicherweise schon zur Zeit des Confucius gebräuchlich waren. Fast könnte man daran verzweifeln, daß sie sich in ihren Industrien überhaupt aufrütteln lassen, wenn nicht die wohlfeilen europäischen Produkte die chinesischen unterbieten und deshalb immer mehr und mehr Eingang finden würden.
Der Chinese ist viel zu sehr Rechenmeister und Handelsmann, um sich auch dann auf seine Ueberlieferungen zu steifen, wenn es ihm an den Geldbeutel geht, einzelne Artikel hat er schon aufgegeben, um sie durch europäische zu ersetzen, andere europäische hat er selbst zu erzeugen begonnen. So z. B. machen die Chinesen wohl schon seit langer Zeit Nähnadeln, aber jede einzelne wird mit der Hand gefeilt und gebohrt und ist deshalb nicht nur kostspielig, sondern auch so plump, daß sie sich mit unseren spottbilligen Nadeln gar nicht vergleichen lassen. Bekanntlich werden unsere Nadeln in kleine schwarze Paketchen gepackt. Die guten chinesischen Damen stießen sich anfänglich an der schwarzen Unglücksfarbe des Packpapiers und meinten, wenn die Nadeln in rotes Papier gepackt wären, würden sie sie doch versuchen. Natürlich beeilten sich die Birminghamer, ihre zarten Produkte für den chinesischen Markt in schönes rotes Papier zu hüllen, und jetzt haben sich die Chinesen so sehr an die billigen europäischen Nadeln gewöhnt, daß sie auch schwarze Packungen annehmen. Der chinesischen Nadelindustrie aber ist der Garaus gemacht. In den entfernten Provinzen des Innern schmieden sich die Bauern ihre Nadeln freilich noch immer selbst. Auch den Nutzen von Glas haben sie einsehen gelernt, das sie bis zum Verkehr mit den Europäern gar nicht gekannt haben. Ihre Fensterscheiben waren Papierbogen, ihre Spiegel aus Metall. Allmählich lernten sie das Schmelzen des Glases, und Tausende von Tonnen mit Glasscherben und alten Flaschen wurden jährlich nach China exportiert; jetzt verstehen sie es schon, den Kies selbst zu schmelzen und Glasscheiben zu erzeugen, so daß die Ausfuhr von Glasscheiben nach China vollständig aufgehört hat. Aber Spiegel können sie noch immer nicht erzeugen, dafür schleifen sie ihre runden Metallspiegel so glänzend, daß dieselben wirklich Ersatz für die Glasspiegel bilden.
Auch Brillen fanden bei den Zopfträgern willigen Eingang, aber weit davon, sie aus Europa einführen zu lassen, machen sie die Linsen ebenso wie die Horneinfassungen selbst; je größer die Linsen, je dicker die Rahmen, desto besser, denn es gehört in China [590] zum guten Ton, große Brillen zu tragen. Die Mandarine, Beamten, wohlhabenden Geschäftsleute und die Compradores (Zahlmeister) der europäischen Kaufleute tragen gewöhnlich unförmig große Augengläser mit Krystallscheiben darin, welche ihr halbes Gesicht bedecken. Unsere europäischen Linsen können sie nicht gebrauchen, weil diese ihrer Ansicht nach viel zu klein sind. Deshalb bestehen in China eigene Schleifereien solcher Linsen, und da ihr Glas zu unrein ist, verwenden sie nur Krystall und schleifen die Linsen so lange, bis sie den betreffenden Augen entsprechen. Auf meiner Reise den Jangtsekiang aufwärts im vergangenen Frühjahr legte unser Schiff auch in Wuhu an, und begleitet von einem dort bekannten Theehändler, brachte ich mehrere Stunden in den dortigen Geschäftsvierteln zu. Auf dem Wege dahin begegneten wir einem dem Theehändler bekannten Chinesen, der eben zum Sekretär des Tao-Tais (Präfekten) ernannt worden, war. Durch unseren Dolmetscher ließ er uns mitteilen, er wäre eben im Begriff, zum Optikus zu gehen, um sich Brillen für seine schwachen Augen schleifen zu lassen. Offenbar schämte er sich vor uns, als Beamter noch keine Brille zu tragen. Thatsächlich sahen wir ihn bei einem Brillenmacher halten, und als wir zwei Stunden später zufällig wieder vorbeikamen, rief er uns lächelnd zu, die Linsen wären nun für sein Auge passend geschliffen. Der Neugierde halber blickte ich durch diese riesigen kreisrunden Gläser; sie waren flach wie Fensterscheiben.
Aus dem ganzen industriellen Leben der Chinesen konnte ich erkennen, daß sie mit Zähigkeit an ihren althergebrachten Werkzeugen und Herstellungsarten festhalten und ungemein schwer dazu gebracht werden können, sich die unsrigen anzueignen. Selbst im Auslande, wie z. B. in Kalifornien, wo sie, wie ich in meinem Buch über das Land (Leipzig, G. Weigel) geschildert habe, doch mitten unter den Amerikanern leben und arbeiten, haben sie ihre altchinesischen Handwerksmethoden beibehalten; ja, sie lassen sich ihren ganzen Bedarf an Kleidern, Gerätschaften, Werkzeugen etc. aus China bringen, statt die praktischen, billigen amerikanischen Artikel anzuschaffen. Nur Industrien, die sie vor der Berührung mit den Europäern nicht besaßen, nehmen sie willig an, vorausgesetzt, daß ihnen deren Nützlichkeit einleuchtet. So war es gar nicht schwer, den Gebrauch von Petroleum und damit auch Petroleumlampen bei ihnen einzuführen, aber die letzteren machen sie jetzt in Canton schon selbst und verschicken sie jährlich nach vielen Tausenden ins Innere. Ebenso unbekannt war ihnen unsere Eisenindustrie mit ihren großen Gießereien, ihren gewaltigen Stahlwerken, Maschinen aller Art. Es dauerte gar nicht lange, so besaßen sie an verschiedenen Orten Arsenale und Maschinenwerkstätten, geleitet von Europäern, die sie aber allmählich durch eingeborene Ingenieure und Mechaniker zu ersetzen bestrebt sind. Augenblicklich sind sie daran, den Eisenbahnbau von Europäern zu studieren, um seinerzeit ihre Eisenbahnen selbst bauen zu können.
Trotz der großen Erfindungen, welche die Geschichte den Chinesen des Altertums zuschreibt, sind die heutigen Bewohner Chinas kein erfindungsreiches Volk; dafür ist ihr Nachahmungsvermögen ungewöhnlich stark ausgeprägt. Haben sie einmal europäische Gegenstände, von deren Nützlichkeit sie überzeugt sind, und werden sie durch Europäer in die Geheimnisse ihrer Herstellung eingeweiht, so ist es ihnen ein Leichtes, selbständig zum Nachteil der europäischen Industrien weiter zu schaffen.
In Hongkong, Shanghai, Singapore und anderen Großstädten Ostasiens ist die Kleinindustrie fast ganz in die Hände der Chinesen übergegangen, denn der Europäer kann mit ihnen nicht konkurrieren. Der Bedarf an Kleidern und Schuhwerk für die dort ansässigen Europäer wird größtenteils von Chinesen geliefert, die sich auch in diesen Sachen als sehr flinke, verläßliche und äußerst anspruchslose Arbeiter erweisen. Für neue Kleider, Wäsche oder Schuhe Maß zu nehmen, ist nicht ihre Sache; aber sobald ich ihnen ein europäisches Kleidungsstück als Muster mitgab, verfertigten sie danach in der kürzesten Zeit genau das gleiche Kleidungsstück zu erstaunlich billigen Preisen. Ganze Anzüge aus guten europäischen Stoffen wurden mir in Shanghai und Singapore für zehn bis zwölf Silberdollars (nach dem gegenwärtigen Werte 20 bis 25 Mark) binnen vierundzwanzig Stunden geliefert. Nur muß in kleineren Orten darauf Bedacht genommen werden, diesen bezopften Kleiderkünstlern nicht etwa geflickte Kleider als Muster mitzugeben, weil das neue Kleidungsstück dann gewiß den gleichen Flickschaden an der gleichen Stelle zeigen würde.