Spener und der Pietismus/Joh. Albr. Bengel und seine Schule

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« Die Zeit von Spener und Francke Spener und der Pietismus Zinzendorf und die Brüdergemeine »
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2. Joh. Albr. Bengel und seine Schule.

In Joh. Albr. Bengel,[1] geb. 1687 in Winnenden bei Stuttgart, gest. 2. November 1752 erstand um dieselbe Zeit, wo der Pietismus anderwärts und besonders in Halle ausartete oder ermattete, für die evangelische Kirche, zunächst Württembergs (das in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts den[649] Kelch der lutherischen Orthodoxie bis zur Neige getrunken hatte, aber nun auch um so begieriger nach einer kräftigeren und gesunderen Kost war, wie sie ihm ein J. Val. Andreä, ein Hedinger und verschiedene Andere boten), ein Theolog ersten Ranges. Seine kerngesunde männliche Frömmigkeit war gleich weit entfernt von dem düsteren Ernst des späteren Pietismus, wie von der Weichheit und Gefühlsseligkeit Zinzendorfs; vielmehr bildete den Grundzug seines Charakters die Vereinigung der Ehrfurcht vor Gottes heiliger Majestät, die in strengster Gewissenhaftigkeit allezeit als vor Gottes Angesicht und daher unerschrocken und frei Menschen und ihrem Tadel oder Lob gegenüber stand, und eines kindlichen Vertrauens zu Gott, das frei von knechtischem Sinn und von menschlichen Schranken wie ein Sohn in den Schätzen des großen Hauses Gottes als seinem gottgeschenkten Eigenthume waltet.

Schon vor Bengel hatte Spener Freunde und Anhänger in Württemberg gewonnen, auch aus höheren Kreisen, besonders Reuchlin, Weismann, Hochstetter, Jäger, und der Verkehr mit Halle war längere Zeit hindurch ein sehr lebendiger. Auch Bengel besuchte diesen Sitz der Weisheit und Frömmigkeit 1713 und nahm tiefe Eindrücke mit sich. Aber die geistige Selbstständigkeit und Eigenthümlichkeit des schwäbischen Stammes, so willig sie alle verwandten Bildungselemente an sich zog, drang mit dem zweiten Viertel des Jahrhunderts, besonders gestützt auf die dort seit Alters heimische gründliche gelehrte Bildung durch, und wurde sich ihrer selbst immer klarer bewußt.

In Bengel zumal lebt so kräftig wie in Spener das praktisch religiöse Interesse und der zarte vor jeder Befleckung des Gewissens scheue Sinn, der ihn zu einer ehrwürdigen, gesalbten Persönlichkeit macht. Aber nicht nur ist in ihm auch der intellektuelle Faktor lebendig, und zur Nährung einer wachsthümlichen, mit der Taufgnade oder dem Bewußtsein der Kindschaft noch nicht fertigen Frömmigkeit will er die Erkenntniß der Worte und Thaten Gottes in ihrem Zusammenhange verwenden: sondern verglichen mit der hallischen Schule, besonders der späteren, ist ihm auch im Zusammenhang mit dem weitern Blick ein weiteres Herz, ein warmes Interesse nicht bloß für das Heil der einzelnen Seele, sondern für den ganzen „großen Haushalt Gottes“ und die göttliche Erziehung der Menschheit in Vergangenheit und Zukunft eigen. Er knüpft hier an das Verwandte in Speners „Hoffnung besserer Zeiten“ an; aber sie wird in ihm zu einem fruchtbaren Keime für eine ganze,[650] durchgebildete Weltanschauung, in der das Streben zu erkennen ist, die ganze bisherige Geschichte als ein Gotteswerk in ihrer Gliederung und ihrem innersten auf das Reich Gottes bezogenen Sinn, immer im engsten Anschluß an die heilige Schrift zu erkennen.

Er ist ein treuer Sohn seiner Kirche,[2] aber gerade weil er sich an dem Marke der reformatorischen Wahrheiten groß genährt hat, bewegt er sich frei den symbolischen Büchern und noch mehr der ausgestalteten Dogmatik gegenüber.[3] Pietät und Besonnenheit wie innerste Ueberzeugung verbinden ihn[651] mit seiner Kirche; aber ihre Lehre ist ihm kein Bann und Riegel gegen weitere Erkenntniß. Seine Theologie ist nicht mehr oder noch nicht Dogmatik, sondern Schrifterkenntniß. Dafür war er auch aber in seltensten Maße ausgestattet. Er vereinigte eine gründliche philologische Bildung mit scharfem Verstand, Nüchternheit und gesundem Takt. Produktive Spekulation oder Systematik war nicht seine Sache, sondern er war mehr eine historische Natur. Aber die reinste, durch die Treue im Kleinsten sich bewährende Hingebung, ja Schmiegsamkeit an seinen heiligen Gegenstand, getragen von dem warmen Interesse an ihren lebendigen Realitäten zeichnet nicht bloß in sein Gemüth einen Abdruck von der lebensvollen Ganzheit des Gegenstandes, der den Schriftinhalt bildet, sondern lockt auch die geistige Funktion hervor und befruchtet sie, welche ein real gewordnes System von Gottesgedanken in der Geschichte der Menschheit, besonders ihrem Mittelpunkte ahnt, das er in seinem großen Zusammenhange und Fortschreiten mit allen Mitteln menschlicher Wissenschaft, die ihm zu Gebote stehen, nachzuweisen sucht.

Das erste, ebenso mühsame als unscheinbare und damals viel verkannte Werk war ihm, im Gegensatz zu der Recepta, die zu diktatorischer Autorität traditionell und ohne Untersuchung gelangt war, die richtige Textgestalt neuen Testamentes zu finden, zu welchem Zweck er sich keine Mühe[652] verdrießen ließ, so viele Handschriften zu vergleichen als er deren konnte habhaft werden; dazu alte Uebersetzungen, Citate bei den Kirchenvätern u. s. w. zuzuziehen. Bengel ist der Schöpfer der neutestamentlichen Textkritik in Deutschland geworden und es ist noch für unsere Tage des Nachdenkens werth, daß die Mutter dieser Wissenschaft (an die sich nothwendig auch die umfassenderen Fragen nach der Aechtheit ganzer Schriften neuen Testaments anschließen) der zarteste und gewissenhafteste evangelische Glaube war, nicht etwa ein negativer, skeptischer Geist. Der evangelische Glaube bewährte in Bengel das kritische Element, ohne das er nicht gesund und lebendig bleiben kann. Die Textgestalt, sagt er, die an unsicherer Verschiedenheit der Varianten leidet, will festgestellt sein, damit wir nicht apostolische Worte ungenutzt lassen, oder Worte von Abschreibern als apostolische behandeln.[4] Derselbe Eifer, der nicht duldet, daß Göttliches als nur menschlich behandelt werde, verwehrt auch, daß nur Menschliches göttliche Auctorität genieße: das Eine wie das Andere fordert seine Anwendung auf einzelne Stellen wie ganze Schriften des neuen Testaments.[5] Und die ganze heilige Schrift, nicht bloß dogmatische Beweisstellen, ist zu studiren, besonders von den Theologen.

Das zweite Werk ist ihm die Auslegung. Hier kommt es ihm auf die genaueste Feststellung der biblischen Grund- und Stammbegriffe an, die er ziemlich in gleichen Bezeichnungen durch die ganze heilige Schrift als wäre sie Ein Buch, findet, ohne deßhalb einer mechanischen, die Individualitäten verkennenden und die Selbstthätigkeit der heiligen Schriftsteller ausschließenden Inspirationslehre zu huldigen.[6] Diese Grundbegriffe, wie Glauben, Leben, Licht, Gerechtigkeit, Herrlichkeit, ewiges Leben will er nicht durch irgend ein dogmatisches Schema in ihrer Fülle einengen, aber ebenso wenig die sogenannte „Emphase der Schriftworte“ dahin geltend machen, daß alles Mögliche in den Text hineingelesen werde. Vielmehr der einfache Wortsinn, im Zusammenhang aufgefaßt ist es was er mit eben so feinem als keuschem Ohr zu vernehmen sucht.[7] Er ist sich bewußt, dadurch nicht zu verlieren,[653] denn er will die heilige Schrift nicht als ein bloßes „Spruchbüchlein“ für erbauliche oder dogmatische Zwecke behandelt wissen, sondern die heilige Schrift ist ihm ein weise geordnetes, lebensvolles Ganzes, worin nichts zu wenig, nichts zu viel, sondern alles voll Harmonie ist. Man hat nach Bengel die heilige Schrift „als eine unvergleichliche Nachricht von der göttlichen Oekonomie bei dem menschlichen Geschlechte von Anfang bis zum Ende aller Dinge durch alle Weltzeiten hindurch“ anzusehen, als ein schönes, herrliches zusammenhängendes System.[8] Er denkt aber nicht daran, die schriftmäßige Beschreibung dieser Haushaltung des Reiches Gottes, welche in ihrer weisen Ordnung und Gliederung wie Himmel und Erde so die Aeonen umfaßt, als christliches Lehrsystem aufzustellen (wie das Coccejus und Andre in neuerer Zeit gethan haben, nicht ohne die Gefahr, entweder das Werden der Geschichte zu verflüchtigen oder aber den ewigen Gehalt zu wenig gegen den wechselnden in klarem Unterschied sicher zu stellen, vielmehr das Dogmatische von der Geschichte absorbirt werden zu lassen, was wieder einem bloß historischen Glauben zuführen müßte). Er weiß wohl, daß die Erkenntniß der Geschichte für sich allein den christlichen Glauben noch nicht begründet, und daß es diesem um ewige Dinge zu thun ist, die er im Historischen offenbar werden sieht. Daher beläßt er der schriftmäßigen Dogmatik ihre Stelle, will aber neben diesem Ersten und Nothwendigsten, der Erkenntniß Gottes, des Schöpfers, Erlösers, Trösters, so wie der Sünde und Gnade als zweites in der heiligen Schrift enthaltenes Denkmal Gottes die göttliche Haushaltung in Erziehung nicht bloß der einzelnen Seele zum Heil, sondern des Menschengeschlechtes angesehen wissen. Sein Glaube ist, daß der heiligen Schrift ein System von göttlichen Realitäten zu Grunde liegt, die durch Gottes Worte und Thaten sich zur Offenbarung bringen, ohne daß er jedoch dasselbe systematisch darzustellen unternommen hätte. In jenen Stammbegriffen hat er aber Bausteine für einen solchen Bau zugehauen.

Mit besonderer Liebe und Anstrengung richtet er jedoch seine Blicke auf das Ende der Wege Gottes, den Tag des Herrn. Denn „das Ziel aller Zeiten in der Schrift ist die Zukunft Jesu Christi in Herrlichkeit.“[9] Das alle Fülle der Vollkommenheit in sich schließende Ziel der Weltgeschichte muß[654] für die Bedeutung wie den Gang ihrer Entwicklung entscheidend sein. Um diesen Organismus der göttlichen Gedanken zu verstehen, die sich in der Geschichte ausprägen, dazu sind die Zeitangaben heiliger Schrift ihm von größter Wichtigkeit. Sie bezeichnen das Knochengerüste, von welchem die ganze Gestalt der Geschichte abhängt, die ohne Gliederung und Einschnitte nicht verstanden werden kann.[10] Nimmt man die stückweise in der Schrift gegebenen Zeitangaben, sagt er, nach Anleitung der Schrift zusammen, so gibt es eine durchgängig zusammenhängende, aus proportionirten Theilen bestehende Zeitlinie, die der göttlichen Weisheit gemäß sein muß. Das äußere Maß der abgegrenzten Perioden weist auf die innere Gliederung: und diese feste schöne Ordnung des Fortschreitens von der Genesis an bis zur Apokalypse hat ihm zugleich eine hohe apologetische Bedeutung für die heilige Schrift und für die christliche Religion: sie zeigt ein sich durch sich selbst empfehlendes Realsystem. Erhält durch das Endziel der göttlichen Oekonomie das schon Geschehene erst sein volles Licht, so ist dieses hinwiederum in seinem langen aber sicheren bisherigen Laufe auch eine Bestätigung für die Weissagung, die noch nicht erfüllt ist. Aus diesem Grunde hat die Bengelsche Apokalyptik neue gelehrte chronologische Untersuchungen angestellt und er hat ein selbstständiges chronologisches System entworfen.[11] Seine chronologischen Berechnungen des Endes der jetzigen Weltordnung, das er aber von der unberechenbaren Zeit des jüngsten Gerichts will unterschieden wissen, indem noch das sogenannte tausendjährige Reich von nicht bestimmbarer Dauer in der Mitte liege, sind freilich, was er als möglich selbst zugegeben hatte, durch den Erfolg als irrig erwiesen: aber seine dauernde und segensreiche Einwirkung auf Theologie und Kirche ist darum nicht erloschen, sondern seine Prophezeiung über sich selbst ist in Erfüllung gegangen: er werde eine Zeit lang vergessen, dann aber wieder hervorgezogen werden. Seine Werke sind[655] der erste Hahnenschrei einer neuen Exegese, wie die evangelische Kirche sie bedarf. Zunächst freilich stieß sein Streben bei dem Orden der Fachtheologen an den Universitäten und bei der officiellen Theologie auf wenig Gunst,[12] und viel Verkennung. Aber in der Stille sammelte sich um ihn ein Kreis gediegener Männer, die in freier und manchfaltiger Weise Träger seines Geistes und Pfleger der in Bengel beschlossenen Keime waren. Die Bengelsche Schule verzweigte sich aber in zwei innerlich durch eine große Liebe zur heiligen Schrift wie zum Volk verbundene Richtungen. Die eine ist mehr einfach historisch geartet, die andere ist christlich spekulativen Geistes. Die erstere einflußreichere und stärker vertretene setzt theils in gründlicher Weise die exegetische Arbeit fort neben zahlreichen praktischen Schriften, so der spätere Kanzler von Tübingen Jer. Fr. Reuß, Magn. Fr. Roos,[13] theils behandelt sie auch die Kirchengeschichte, wozu in Spenerschem Geist schon Weismann den Anfang gemacht,[14] während Reuß und Burk auch die systematische Theologie anbauen.[15] [656]

Die andere ist mehr spekulativ geartet, jedoch in theosophischer Form, und zu ihr gehören Christoph Friedr. Oetinger, Ludwig Fricker, Phil. Matth. Hahn und Mich. Hahn. In ihnen knüpft die Bengelsche Schule an Jac. Böhme an: sie bilden aber auch eine Brücke zur neueren Philosophie seit Schelling. Sie umspannen mit ihrem Forschen und Denken nicht bloß die Heilsgeschichte und das Gebiet der Religion, die sie als Geschichte des göttlichen in dem Königreiche Jesu Christi sich vollendenden Reiches verstehen wollen, sondern auch das Wesen Gottes und die ganze Natur ziehen sie in ihre Kreise, die Materie und den Geist, das Verhältniß Gottes und der Welt, der Seele und des Leibes. Der Wolffschen Philosophie setzt sich das Haupt dieser Gruppe, Oetinger als einem abgestandenen, grauen Idealismus entgegen, dem Gott unter dem Vorwand der Erhabenheit des höchsten Wesens zu einem leblosen Eins sich zusammenziehe, das zwar den Namen des Ens actuosissimum trägt, aber das in die Bande einer ewigen Nothwendigkeit so gefangen ist, daß es fast zum personificirten Fatum oder Gesetz des Geschehens wird, eine lebensvolle Beziehung aber der „ewigen Wahrheiten“ zur Geschichte und ein wirklich sich bereichernder Gehalt dieser nicht herauskommen kann. Wolffs Lehre von der besten Welt unter den möglichen erkauft wie Leibnitz die Theodicee mit der Annahme, daß das Böse, weil stammend aus der nothwendigen Schranke der Welt und besonders des Menschen, die zu ihrem Wesen und Unterschied von Gott gehört, nun einmal nothwendig sei und bleibe, womit die ethische Teleologie im Innersten verletzt und der Weg dazu eingeschlagen war, die Welt zu nehmen wie sie ist und sich aufs bequemste mit ihr zurecht zu finden, da die Vollkommenheit wohl als ethisches Princip genannt, aber durch die erwähnten Vordersätze zugleich als unerreichbar bezeichnet war.[16] Diesem Idealismus, dessen Kehrseite eine mechanische ideenlose Denkweise und eine platte Philisterhaftigkeit wurde, die mit der Welt, wie sie ist, sich eudämonistisch leidlich zurecht findet, steht Oetinger so feindlich entgegen wie das Feuer dem Wasser. Er geht in seiner Polemik auf die letzten Gründe zurück, auf die Gottesidee, die so lange unbewegt und mit dem evangelischen Glauben unversöhnt nur in ihrer alten vorreformatorischen Form sich fortgeerbt hatte, die aber schon[657] von Bengel als sehr incongruent mit der heiligen Schrift gefunden war. Bengels Anschauung von der himmlischen Welt als einer Welt von Realitäten konnte Gott nicht mehr nur als das unbegrenzte unermeßliche Wesen voll Wille und Verstand denken, sondern als das lebendige Centrum, das Alles durchwaltend zugleich in seiner eigenen Herrlichkeit und Seligkeit thront, zu der es durch Christus die Menschen emporführt. Er konnte nicht damit vorlieb nehmen, Gott in seinem Verhältniß zur Welt nur als das todte Gesetz zu denken und die Beziehung zum Menschen in dem juridischen Verhältniß des Gebietens, Gerechtsprechens und Richtens aufgehen zu lassen, sondern er wollte neben dem juridischen auch das lebendige physische und ethische Verhältniß Gottes zur Welt zu seinem Rechte kommen lassen, was auf die hergebrachte Versöhnungslehre seiner Zeit zurückwirken mußte.[17]

Oetinger nun ergreift diese Gedanken und bringt sie zu reicher, selbstständiger Verarbeitung.[18] Gott ist ihm nicht absolute Einfachheit, sondern die absolut vermittelte Einheit der göttlichen Kräfte. Indem er in Gott lebendige Potenzen setzt, deren Band zwar in ihm unauflöslich ist, die aber doch für sich wirken können, hofft er daran ein Princip der Bewegung im Gegensatz zu dem starren Gottesbegriff Spinoza’s oder der Wolffschen Philosophie und des Deismus gefunden zu haben. Nicht minder aber findet er auch die Kirchenlehre spiritualistisch, in einem falschen Gegensatz zur Natur und Leiblichkeit, zum „biblischen Realismus.“ Die Herrlichkeit (δόξα), welche die heilige Schrift Gott zuschreibt, ist nicht bloße geistige Erhabenheit, sondern die Objectivirung seiner innern Lebensfülle, die Natur oder der Strahlenleib Gottes. Gott ist ihm und seinen Freunden nicht bloß Geist, sondern substanzielles Leben, was sie mit der Leiblichkeit Gottes bezeichnen wollen. Diese bildet dann für die Weltentstehung das nächste Princip, die unendlichen Kräfte in Gott aber, die in der Natur nur in aufgelöster Einheit sich finden, sind in dem Menschen als Mikrokosmos und Mikrotheos wieder, wenn gleich nur erst löslich vereinigt. Mit ihm beginnt die Geschichte, das Reich der Freiheit, deren Ziel eine herrliche Einheit von Geist und Natur ist, wobei die Natur zur geistigen Leiblichkeit erhoben wird, der Geist aber ebendamit zu seiner substanziellen Kraft und Organisation gelangt. Diese Gedanken, in[658] neuster Zeit von Schelling und Rothe weiter entwickelt und von letzterem auch für die Ethik verwendet, wurden freilich von Oetinger zu unmittelbar in der heiligen Schrift gefunden. Der „biblische Realismus,“ müde der Verflüchtigungen biblischer Kernbegriffe, verwarf, um überall „massive Begriffe“ in der heiligen Schrift zu haben, jede bildliche Redeweise, und indem demgemäß auch das prophetische Wort der heiligen Schrift z. B. der ezechielische Tempel erklärt wurde, so mußte dasjenige, was noch nicht seine massive buchstäbliche Erfüllung gefunden hat, als noch bevorstehend erwartet werden. Dadurch verfiel die Bengelsche Schule, so wahr und tief der Grundgedanke ist, daß Leiblichkeit das Ende der Wege Gottes sei, vielfach wieder einem Literalismus, ja sogar einem Judaismus; z. B. Thieropfer und Priesterthum sollen in dem tausendjährigen Reich wieder ihre Stelle und das jüdische Volk soll über alle andern nach seiner Bekehrung die Herrschaft haben. Da war die Gefahr, das bisherige Christenthum nur zu einer Vorhalle des vollendeten Judenthums zu machen und das im Geist begonnene im Fleisch enden zu lassen, ja auf eschatologischem Umweg auch in bedenkliche Nähe zu katholischen Grundgedanken zu gerathen.

Doch ist dieses mehr nur als Schale zu betrachten, welche diese frische jugendliche Erscheinung auf dem Gebiet der Theologie noch an sich trägt. Sie ist, wenn auch in der Methode noch unvollkommen, doch darum so beachtenswerth, weil sie die Sprödigkeit gegen die „Weisheit auf der Gasse“ (die Philosophie) aufgibt, an einer Versöhnung mit dem Glauben festhält, durch manche kostbare Gedanken eine neue tiefere und gehaltvollere Philosophie ankündigt, namentlich schon bedeutende Sätze der Erkenntnißtheorie ausspricht, mit der sich die deutsche Philosophie zunächst beschäftigen sollte. Wir verweilen noch etwas hiebei.

Oetinger sucht eine spekulative Theologie oder Religionsphilosophie, die Natur und heilige Geschichte in sich aufnähme. Eine kindlich einfältige Frömmigkeit vereinigt sich in seinem gewaltigen Geist mit einem unauslöschlichen Wissensdurst, mit ausgebreiteter Gelehrsamkeit und einem hellen, philosophisch gebildeten Verstande.[19] Die neue Wissenschaft, die er weissagt und zu inauguriren sucht, soll dem Spiritualismus der Orthodoxie, der die Realitäten der christlichen Welt zu schaalen Abstractionen herabsetzt, so[659] entgegengesetzt sein, wie dem Idealismus der Wolffschen Philosophie. Mit den Theosophen des ersten Jahrhunderts der evangelischen Kirche (s. o. S. 600 f.) hat Oetinger einen mächtigen Zug zur Natur. Hinter der groben Materialität der Natur in ihrer gegenwärtigen Gestalt ahnt er eine höhere Realität, die durch den eschatologischen Proceß in die Erscheinung treten wird. Die Versuche, die Natur mathematisch oder mechanisch zu erklären, findet er prunkend, aber unfruchtbar. Das Innerste derselben verstehe die mechanische Kunstphilosophie nicht; ja auch Vergrößerungsgläser reichen nicht aus. Gehe man immerhin so weit und tief man kann, man wird doch müssen stille stehen und sagen: unausspürlich ist Gott.[20] Die Wahrheit ist, daß die Natur sich selber erst sucht, aber noch nicht gefunden hat; sie ist nicht ein in sich abgeschlossenes Sein, sondern ein Werden, das Gott zu seinem Ziele nimmt. Diesem Werden möchte er auf die Spur kommen, und dazu hat er sich viel mit der Chemie beschäftigt, um die Geburten der Dinge und das daraus hervorgehende Leben der Natur durch Experimente, die an Alchymie streifen, zu erforschen. Das Leben ist ihm das Erkennenswertheste; es offenbart sich evident dem allgemeinen Gefühl, sensus communis[21], während Nichts dem abstracten Verstande verschlossener bleibt, als das Leben. Auch in dem Kleinsten ist ein Unendliches, das so große Weisheit in sich faßt als die größten Weltkörper. Und beschaut man so die Dinge, so blicket die Allgegenwart Gottes in dem Leben aller Dinge hervor. Das Organ der wahren Naturbetrachtung ist ihm im Gegensatz zu philosophischen Abstractionen das ungetrübte Lebensgefühl einer rein gestimmten gottinnigen Seele, die einen gewissen Rapport mit dem Innersten der Natur in sich herstellt, wie solchen die ersten einfachen Naturkinder genossen haben. Das ist die „metaphysische Empirie“ Schellings, die ihre Anwendung ebenso auf dem Gebiet der Geschichte, wie der Natur hat; ein Analogon des Unterschiedes, den Hamann zwischen dem Hören von Tönen und dem musikalischen Gehöre, zwischen dem Sehen von Farben und dem Auge des Malers macht. Aber doch müssen wir denkend der Natur näher zu kommen suchen. Die Idee des Lebens ist ihm ein Ineinander von zwei gegeneinanderstehenden Kräften,[660] die aber in einer dritten vereinigt sind. Alle Vielheit läuft endlich in eine Zweiheit und durch diese in eine Einheit. Die heilige Schrift und die Alten bieten ihm puncta normativa und ideas directrices für die richtige Auffassung des Lebens.

Aber auch eine Geistesphilosophie erstrebt er, die ihm zu Stande kommt durch die Vereinigung zweier Factoren, der heiligen Schrift und des allgemeinen Wahrheitsgefühles (sensus communis). Als Resultat dieser beiden Quellen, die er auch in seinem Hauptwerk: Theologia ex idea vitae deducta immer vorausschickt, ergibt sich bei ihm die bewährte Wahrheit, die Philosophia sacra. Schon in dem seelischen Leben ist ein verborgener Zug zum Geistigen, ein sensus tacitus aeternitatis, stammend aus einer gewissen Einstrahlung, aus dem Lichte Gottes, die mit dem Leben der niederen Geschöpfe sich verbindend in dem Menschen allgemeine Vorempfindungen — Gefühl des Rechts und Unrechtes — und einen Takt das Nothwendigste, Nützlichste und Einfältigste zu treffen, erregt. Er nennt das auch ein geistlich-musikalisches Verständniß der Wahrheit, das ein allgemeines Gut von Oben sei, und wo das allgemeine Gefühl des Lebens und der Wahrheit, des Rechtes und des Unrechtes unterdrückt ist, läßt es sich nimmer aufrichten.[22]

Die Orthodoxie machte ihm den Vorwurf, daß er mit der kirchlichen Lehre von der Erbsünde nicht harmonire und einer bloß natürlichen Theologie Vorschub leiste, die Natur und Gnadenordnung verwirre und die Vernunft und den heiligen Geist vermische. Aber sein sensus communis ist ihm wohl unterschieden von der Stufe christlicher Erkenntniß; er ist ihm nur ein Fühlungswerkzeug (sensorium) der allgegenwärtigen Weisheit, des Lebens und der Wahrheit, des Rechtes und des Lichtes; isolirt von Gott gewährt er kein Wissen, man muß Gott haben in der Erkenntniß. Der sensus communis ist da für die objective Offenbarung Gottes; allgegenwärtig wirket und redet Gott durch Alles, das Inwendige ergießt sich in das Auswendige und das Auswendige bezeichnet das Inwendige. In allem rein Menschlichen, in Wissenschaft, Staat, Gesellschaft findet der sensus communis die Offenbarung des allgegenwärtigen Gottes. Er erschaut in Allem menschlich Wahren, Schönen, Guten das lebendige Göttliche, soweit es dem natürlichen Menschen zukommt. Dieses göttliche Lebensgefühl besaß[661] Christus auf die ausnehmendste Art. Zu ihm zieht unser sensus communis, zu dem auch das Gewissen gehört, uns hin; und das ist der Anknüpfungspunkt für die Wirkungen des heiligen Geistes im Menschen. Der sensus communis ist seine Werkstatt und die Wahrheiten der heiligen Schrift treffen mit dem innersten Gefühl des Gewissens zusammen. Durch die heilige Schrift wird der sensus communis erst standhaft gemacht. Er würde aber leicht abirren und sich selbst zweifelhaft werden, wenn nicht göttliche Kraft, die das seelische Leben zum geistlichen verklärt, und die heilige Schrift mit der heiligen Geschichte, davon sie zeugt, mit dazu käme. Nach dem sensus communis als dem allgemeinen Wahrheitsgefühl ist aber auch die h. Schrift auszulegen und nicht nach irgend einer Philosophie. Aufs Strengste, Treuste will er an der h. Schrift und ihren Grundbegriffen als einem Amphitheater der höchsten und niedrigsten Dinge festhalten; ihre Grundbegriffe sind ihm maßgebend für das Gebiet der Natur und des Geistes, die Zusammenfassung derselben ist ihm die Grundweisheit, die aber mit dem sensus communis stimmt und zur Philosophia sacra wird. Das war im Unterschiede von Bengel sein Streben, das allen einzelnen Aussprüchen heiliger Schrift zu Grunde liegende große System göttlicher Wahrheiten in seinen wesentlichsten Grundzügen aufzufinden; sie ist ihm unerläßlich der modernen Philosophie gegenüber. Denn er erkennt, daß, weil man ohne Philosophie nicht auskommen könne, Alles davon abhänge, die rechte Grundweisheit der falschen Philosophie entgegenzustellen. Aber auch der heiligen Schrift gegenüber ist ihm die Philosophia sacra nothwendig; er hält sie zu ihrem vollen Verständniß für so unentbehrlich, wie den Schlüssel für das Schloß. Seine heilige Philosophie will auch die rationes universales aller drei Facultäten inne haben. Aber er hat, und hierin ist er Hamann ähnlich geblieben, gewöhnlich nur fragmentarische Sätze, oft einzelne Geistesblitze enthaltend, mitgetheilt. Nur die Theologia ex idea vitae deducta ist mehr systematisch gehalten, während für gewöhnlich die Einheit und der Zusammenhang seiner Gedanken in seinem Innern beschlossen bleibt, und diese erst durch Combination in Verbindung zu bringen sind. Seine Darstellungsweise steht durch alterthümlichen derb populären Ton in seltsamem Contrast zu der Sprache und Methode der Aufklärungszeit, die in ihren bessern Produkten nicht bloß das scholastische Gewand abstreift, sondern auch eine gemeinverständlichere, so zu sagen menschlichere Form anzog. Daran ist die Einsamkeit seines Denkens, seine Abgezogenheit von dem[662] großen literarischen Verkehr, aber nicht minder auch die Originalität und Tiefe seiner Gedanken schuld, welche zwar nicht selten zu schönem, plastischem Ausdruck sich erheben, nicht weniger selten aber wie in alter Kruste verhüllt sind, so daß man diesen seltenen Geist mit einem herrlichen, aber nicht geschliffenen Diamanten vergleichen darf.

Nicht ohne Verwandtschaft mit Oetinger ist das gnostische System Immanuel Swedenborgs.[23] Dieser merkwürdige Mann von edlem Charakter und unterrichtetem Geist, eine seltsame Mischung von Schwärmerei und trockener Verständigkeit hat dem orthodoxen Lehrbegriff ein System entgegengestellt, dessen extrem supernaturale Einkleidung den heterodoxen Inhalt zu decken und zu empfehlen beabsichtigt, auch ohne Zweifel nach der redlichen Meinung des Verfassers deckt und begründet, aber nichts desto weniger mit diesem seinem Inhalt auf das Seltsamste contrastirt.

Wir zeichnen zuerst die Hauptzüge dieses seines Systems, da offenbar dasselbe nicht erst der heiligen Schrift entnommen ist, sondern höchstens bei Gelegenheit der Schriftlectüre sich in ihm so entwickelt hat, wie es auch an einem andern Buche sich hätte entwickeln können; so lose hängt es mit dem, was er in der heiligen Schrift las, zusammen. Es ist auch offenbar, daß selbst seine allerdings charakteristische Ansicht von der heiligen Schrift nur ein Widerschein seines in ihm treibenden Systems und ein Produkt desselben ist und daß seine Erklärungen über die Quelle seines Systemes noch eine besondere nicht aus der heiligen Schrift für sich stammende Erleuchtung beanspruchen, die nur ihm als einem Propheten oder dem Parakleten zur Einführung der Kirche des neuen Jerusalems (1770 nach Vollendung seines Werkes de vera religione christiana) geworden sein soll. Swedenborgs himmlische (engelische) Offenbarungen sollen den Schlüssel für das wahre Schriftverständniß enthalten, das die Einheit und Blüthe der Kirche herstellen wird: in Wahrheit sollen sie aber einen Canon über dem Canon[663] bilden, der göttliche Autorität für sich in Anspruch nimmt, und willkürlich genug über den Schriftcanon verfügt, sowohl was seinen Umfang betrifft, indem fast alle Hagiographa im alten Testament, und im neuen Testament Alles außer den Evangelien und der Apokalypse wegfallen soll, als in Beziehung auf den Sinn der stehen bleibenden Schriften.

Dem schwedischen Bergrath, der einen tiefen Eindruck von der Einheit und inneren Harmonie der Welt hat, trotzdem daß sie durch die Sünde gestört ist, sowie von der engen, organischen Verkettung aller ihrer Glieder, war schon die Gleichgültigkeit der hergebrachten Theologie gegen die Natur ein großer Anstoß und er suchte für sie eine integrirende unentbehrliche Stelle im All, ja schon in den Grundkategorien des Seins, der Ontologie, im Gegensatz zu dem theologischen Spiritualismus und dem philosophischen Idealismus; und das war es, was Oetingern eine Zeit lang an ihm anzog. Die Natur ist ihm die Stütze des Alls, verleiht erst dem Geist und der Liebe ihren substanziellen Halt und ihre Basis. Sein lebendiges frommes Interesse war von dem Intellektualismus der Orthodoxie abgestoßen und verlangte nach einer realen Gemeinschaft Gottes mit der Welt, die er durch eine pantheistisch gefärbte Emanationstheorie sich denkend nahe zu bringen suchte. Darin wird auch der Grund seiner leidenschaftlichen Opposition gegen die hergebrachte Trinitätslehre zu suchen sein, denn allerdings war diese in eine auch die ökonomische Trinität herabsetzende, von ihr losgerissene und unerreichbare Transcendenz gerückt, indem wohl die Offenbarungstrinität in die göttliche, trinitarische Ewigkeit und Unveränderlichkeit versenkt, aber die Brücke nicht gefunden war, die von dieser zur Welt führte. Das ist um so wahrscheinlicher, da er die wahre Trinitätslehre, welche nicht eine Dreiheit von Personen, sondern eine Dreiheit der Person (des Einen Herrn) lehren müsse, eine köstliche Perle nennt, ja sie durch das All hindurchzuführen und so zu gestalten sucht, daß in ihr Gott und die Welt emanatistisch in Eins zusammengefaßt sind. Ein ethischer Zug endlich ist in seinem freilich auf Mißverstand des evangelischen Glaubensbegriffes beruhenden Gegensatz zur Rechtfertigungslehre nicht zu verkennen; er will die Liebe an Stelle des Glaubens gesetzt wissen, unter welchem er nur das historische Fürwahrhalten versteht. Sein Ethisches hat freilich etwas Oberflächliches durch jenen pantheistischen Zug erhalten. Denn da ihm das Wesen des Menschen, dem er übrigens Freiheit beilegt, göttlicher Art von Natur ist, so ist ihm die Lehre von dem[664] angeborenen Verderben zuwider und die christliche Versöhnungslehre kein Bedürfniß. Er bestreitet vielmehr beide; die Freiheit des Menschen kann sich stets zum Guten entscheiden vermöge innerer Kraft; die Menschheit selbst aber nimmt ihm in dem All eine so eminente Stellung als die Basis und Trägerin des Alls ein, daß mit ihrem Fall, wenn keine Herstellung käme, ein allgemeiner Umsturz erfolgen würde, so, wie ein Thron wankt, wenn sein Fußgestell morsch geworden ist.

Das Universum des Seins stellt er unter dem Bilde von drei concentrischen Kreisen vor, von welchen in dem innersten der Herr als die Liebe umgeben von einer reichgegliederten Welt höherer, in Liebe thätiger Geister ist; ein zweiter Kreis ist der Herr als das göttlich Wahre; auch dieser Kreis ist ein Reich von Geistern, und zwar denkenden. Den dritten Kreis bildet die sichtbare, sinnliche Welt, unsere Natur mit eingeschlossen. Diese Kreise sind jetzt zwar simultan neben einander, aber sie sind nicht ohne lebendige Bewegung und Beziehung zu einander; und um anschaulich zu machen, wie sie werden, ist von dem Bilde des Kreises auf das des Kegels überzugehen, von dessen Spitze, die als kleinster aber kraftweise Alles in sich schließender Kreis vorgestellt werden mag, als von dem Ersten eine Bewegung nach unten vor sich geht, die emanatistisch immer weitere Kreise setzt und bevölkert, zuerst den mittleren, die Sphäre der erkennenden Geisterwelt, bis angelangt ist bei dem Letzten, der Natur. Es ist ein Proceß Gottes selbst, der von dem Sein durch das Werden zum Dasein oder zur Wirklichkeit fortschreitet.[24] Weil das Eine göttliche Wesen, wenn auch nach verschiedenen Seiten, die potenziell in Gott sind, in diesen Kreisen sich manifestirt, so hat jeder eine gewisse innere Verwandtschaft und Beziehung zu den andern; es ist Alles in der Welt voll Correspondenzen. Ist der göttliche Lebensproceß im Letzten, dem Menschen angekommen, so ist Gott in der Sphäre der Wirklichkeit. Im Menschen ist nach seinem sinnlich geistigen Wesen die Zusammenfassung dessen von Gott gewollt, was außer dem Menschen nur im Außereinander ist, Natur, Intelligenz und Liebe, denn mit allen diesen Sphären steht der Mensch in Gemeinschaft nach seiner göttlichen Idee. In Gott selbst ist die Dreiheit: Das Göttliche des Herrn[665] oder der Vater, das göttlich Menschliche oder der Sohn und das Göttliche das ausgeht in Wirkung, Wirklichkeit, der heilige Geist. Im Menschen nun, dem Zielpunkt des göttlichen Lebensprocesses ist die Vollendung des Ganzen, weil indem Gott auf sinnliche Weise Mensch wird, das Göttliche sein adäquates Dasein hat, da alle in Gott liegenden Potenzen in ihm nun verwirklicht sind. Christus ist zunächst dieser wahre Mensch, in welchem die wahre Dreieinigkeit wohnt, Gott als Göttliches (das Divinum patris), als göttlich Menschliches (idea hominis) und als sinnliche Wirklichkeit. Die in Gott potenziell ruhende Sohnschaft, welche actuell wird in Christus, hat zu ihrem Inhalt die substantielle Liebe, das Göttliche des Vaters; Jesu Seele ist aus demselben, aus Jehova und bereitet sich einen himmlischen Leib, was schon auf Erden begann. Auch einen materiellen Leib aus Maria nimmt er an, damit er ganz im Letzten wie im Ersten sei. Aber dadurch tritt ihm Christus in eine Ungleichheit mit seinem Begriff. Denn während Ziel des Processes sein muß, daß Christus in Allem göttlich sei, so ist der Leib von Maria der Verwandlung in das Göttliche nicht fähig. Daher ist eine Abstreifung dieses Leibes, oder eine Umgebärung desselben kraft der inwohnenden Gottheit nöthig. Jetzt ist auch sein Menschliches, Seele und Leib göttlich; das Erste und Letzte, Gott und die (wahre) Natur durchdringen sich in ihm, in ihm ist die wahre Dreieinigkeit verwirklicht, er ist Jehova, ohne Zweiheit der Naturen, eine Einheit, welche die eigentliche Mitte des Universums ist. Ohne Christus wäre der Glaube an Gott wie ein Blick in die blaue ungemessene Luft. Unser Gottesbewußtsein erhält einen Stützpunkt dadurch, daß sich Gott in Christus Bestimmtheit in concreter Wirklichkeit gegeben. In ihm ruht die Kraft, Weisheit und Liebe auszugießen, was sich nach Swedenborg durch die heilige Schrift vermittelt, die ihm nichts Geringeres als die stellvertretende Fortsetzung der Incarnation Gottes seit Christi Scheiden von der Erde ist.

Es ist nicht Christi Person selbst, ihr erlösendes und versöhnendes Thun, worauf für Swedenborg das eigentliche Gewicht fällt; seine pelagianische, ja rationalistische Denkweise bedarf dessen nicht. Der historische Christus hat ihm eigentlich nur Bedeutung als eine Erscheinungs- oder Offenbarungsweise des Wortes Gottes. Dieses ist der eigentliche Mittler, herabsteigend von Gott. Während der historische Christus wieder in die Unsichtbarkeit zurückgegangen ist und in sofern nur eine vorübergehende Erscheinung war, so will das[666] Wort auch im Letzten, dem Buchstaben erscheinen, um ganz und bleibend offenbar zu sein. Der Inhalt auch des Wortes ist der Herr selbst: in ihm steigt Gott selbst herab. Der Mensch war zur Basis oder Stütze des Himmels bestimmt gewesen, aber da er sein Inneres von Gott abgekehrt hatte, so sandte Gott sein Wort, die Verbindung mit dem Himmel aufs Neue zu knüpfen. Sonach ist mehr die Wortwerdung Gottes als die Menschwerdung das Mittel der Herstellung.[25] Schon vor Christus hat das Wort diese mittlerische Rolle gehabt, wie noch jetzt außerhalb der Christenheit. Es hatte aber verschiedene Formen. Ursprünglich war es nur mündlich. Das göttlich Wahre wird von dem Herrn vor der Engelwelt wörtlich vorgesprochen und nimmt dann seinen Lauf durch alle Himmel, bis es bei den Menschen anlangt. Die Abgötterei war schuld, daß aus dem mündlichen Wort, aus welchem alle Weisheit der Heiden floß, ein schriftliches wurde. Es ist verfaßt in der Bibel, die ein Wunderwerk ist, ein Seitenstück des Universums; sie enthält nämlich Gott selbst in seiner Dreieinigkeit in sich: hat daher neben dem buchstäblichen Sinn einen geistigen und himmlischen. Im Letzten ist ihr Sinn natürlich, im Innern geistig, im Innersten himmlisch, in Allem göttlich. Sie ist kein Geschöpf, sondern in ihr ist wie in Christus, aber in dauernder Gegenwart das dreifache Sein Gottes ideell beschlossen, als in einem Gegenbilde Gottes und des Alls, so zwar, daß sie in diesem selbst eine Stelle einnimmt als der Mittler, damit die Zusammenfassung der äußersten Enden, die in ihr gegeben ist, in dem Menschen in persönlicher Form sich wiederhole, der das Natürliche, das Wahre und Gute in sich vereinigen soll. Die wahre Schrifterklärung dringt über den buchstäblichen Sinn zu dem geistigen und himmlischen vor und erkennt die allseitigen Correspondenzen der drei Welten, der Welt der Natur, des Wahren und Guten. Immanuel Swedenborg ist der Schlüssel zu diesem Schriftverständniß offenbart behufs Gründung der Kirche des neuen Jerusalems.

Der Kern des Swedenborgianismus von seiner wunderlichen Verpuppung abgelöst ist ein mystischer Rationalismus, in welchem spekulative und praktische Interessen eine Einigung suchen, die Transcendenz der göttlichen, die Passivität der menschlichen Seite und die spiritualistische Verachtung der Natur[667] überschritten werden will: aber der Proceß des göttlichen Lebens, der dazu führen soll, ist rein kosmisch und entrückt uns gnostisch dem Boden der Geschichte und der Offenbarung.


  1. Burk, Bengels Leben und Wirken, 1831. Wächter, s. vorige Anmerkung Hartmann in Herzogs Real-Encyclop. s. v. Bengel. Ueber seine theologische Bedeutung Herm. v. d. Goltz, Jahrbücher für deutsche Theologie, 1861. S. 460–506. Gaß a. a. O. III, 241. Tholuck, Geschichte des Rationalismus Abth. I, 41–47.
  2. S. Wächter a. a. O. 368 f. Er war mütterlicher Seits ein Nachkomme von Joh. Brenz, dem Reformator Württembergs.
  3. Ueber die Verpflichtung auf die symbolischen Bücher sagt er, man müsse die Diener der Kirche nicht zu allen particularibus in iis contentis, exegesi u. s. w. zwingen wollen. — „Man begehret weiter nichts, als daß man die Haupttheses, nicht die Ausführung, nicht den Beweis, nicht die exegesis glaube, annehme und unterschreibe“. — Die so nach der Weltmode hinleben, die haben gut orthodox sein. Sie glauben, was sie vor sich haben, es gehet nicht durch Prüfung. Aber wo einer Seele etwas an der Wahrheit gelegen ist, und sie möchte gern damit als mit einem Kleinod umgehen, da gehet es so leicht nicht. Wie ist es hernach so übel, wenn man gleich über solche subtile Seelen herfahren und ihnen quaestiones formiren und sie abstringiren und übertäuben will. Man sollte ihnen die Zunge lupfen, daß sie ein Vertrauen gewinnen und sich zurecht weisen lassen. Wächter a. a. O. S. 369. Eine nur äußerliche, politische Union zwischen Lutherischen und Reformirten ist ihm zuwider, weil es auf eine Unio spiritualis ankommen müßte; die sei bei den Wiedergebornen in beiden Confessionen von selber da; eine Unio mit der Masse der Unwiedergeborenen würde doch nicht spiritualer Art sein, sondern Schein. An der reformirten Lehre tadelt er vornehmlich nur die Prädestinationslehre, den „despotischen Gott,“ und sagt, daß der lutherische Widerstand gegen das absolutum decretum die Reformirten zur Milderung und Beschränkung nöthige. Von der Taufe sagt er: die Kinder werden darin Christo zugeeignet, was aber in ihnen eigentlich und zwar nach eines Jeden Empfänglichkeit vorgehe, sei uns impenetrabel. Bei dem heil. Abendmahl liegt ihm Alles an der realen Gegenwart von Christi Leib und Blut. Aber der Oralismus sei in den symbolischen Büchern so hoch getrieben ex zelo contra Reformatos. Er behauptet nicht, daß auch die Ungläubigen Christi Leib und Blut empfangen. Sive accipiunt impii corpus et sanguinem Domini, sive non accipiunt, ipsa praesentia realis eadem est. Res potest declarari ex ratione verbi divini. Coelestia bona appellant imo pulsant etiam incapaces. Ignis appropinquat aquae per verissimam praesentiam, quae inde strepit, nec tamen igni miscetur; quid, praesentia supposita accipiant actu et quam diu retineant, quis definiet? Catechismus Lutheri agit de fructu, qui utique fidem praesupponit, non de ipsa materia sacramenti. S. 388 f. Rechtfertigung und Heiligung sind wie ein Zwirn von zween Fäden, deren jeder doch für sich ist. Es gibt eine Gewißheit von der Sündenvergebung, die ordinarie bei dem Anfang des Glaubens im Herzen ist. Dieser ist in seinem Anfang etwas gar WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt Zartes und erstarkt leichter durch directe Acte als durch actus reflexos der Selbstprüfung seiner Stärke. Doch bleiben die actus reflexi (das Bewußtsein vom Glauben) auch nicht aus und je weniger der Mensch dazu contribuirt, desto lauterer sind sie; doch muß jeder für sein Theil trachten nach dieser Gewißheit, sie bewahren und mehren. Die Versicherung oder Versiegelung von der Gnade ist aber auf des Menschen Seite von der Versicherung über die Beharrlichkeit des Gnadenstandes unterschieden. Der Glaube, auch der wahre, ist Anfangs schwach, ja kann wieder aufhören. Aber je näher der erstarkende Glaube dem Ziele kömmt, je größer mich diese Versicherung über den beharrlichen Gnadenstand und der Triumph darüber. S. 418–420. Wahre Bekehrung ist ihm ein so vielgestaltiges großes Werk, daß der Anfang von vielen Gefahren umgeben ist. Conversionis comes heterodoxiae opinio. Auch deßhalb fordert er Schonung und zarte Behandlung. S. 370. — In der Christologie ist es ein Charakterzug Bengels und seiner Schule, daß sie die menschliche Seite von Christi Person in aller Kraft geltend machen, z. B. daß er im Glauben und nicht im Schauen gewandelt; daß er Versuchungen bestanden, nicht zwar aus seiner Natur sondern von außen stammende, aber doch so, daß auch sein Wesen ihnen an sich zugänglich war und er durch seinen Willen sich in seiner Reinheit zu bewahren hatte. Er findet es eine übertriebene Redensart, daß Jesus vom ersten Moment seiner Empfängniß zur Rechten Gottes gesessen habe. S. 388.
  4. Gnomon N. T. in quo ex nativa verborum vi simplicitas profunditas concinnitas salubritas sensuum coelestium indicatur. Tub. 1742. Praef. §. VIII.
  5. Er hat eine neue Textausgabe N. T. mit einem apparatus criticus 1734 edirt.
  6. Matthäus und Johannes findet er z. B. mehr geisterfüllt als Lucas und Marcus.
  7. Seine Grundsätze und Methode hat er in dem erwähnten klassischen, gedrängten, saft- und kraftvollen Gnomon N. T., seitdem mehrfach wieder gedruckt, ausgeführt.
  8. V. d. Goltz a. a. O. S. 472.
  9. V. d. Goltz S. 473 ff. 479.
  10. Weltalter 1746, Cap. 1, 11. Einl. zur erklärten Offenbarung §. 34. 1740.
  11. Ordo temporum a principio per periodos oeconomiae divinae historicas atque propheticas ad finem usque ita deductus, ut tota series – ex V. et N. Testamento proponatur. 1741. Erklär. Offenb. Joh. 1740. Sechzig erbauliche Reden über die Offenbarung Johannis 1747. Cyclus sive de anno magno solis, lunae, stellarum consideratio 1747. Ueber seine Zeitrechnung ist das Nähere in gedrängter Kürze zu sehen in Hartmanns Artikel in Herzogs Realencyklopädie II, 60–61, wo auch merkwürdige Beispiele seines geschichtlichen Ahnungsvermögens zusammengestellt sind.
  12. Er war vor 1713 an Lehrer in dem Kloster zu Denkendorf; 1741 wurde er als Prälat von Herbrechtingen in das Kirchenregiment berufen, in welchem er die weisen Bilfingerschen Gesetze 1743, das Verhältniß zwischen der Kirche und dem Pietismus betreffend, zu segensreicher Durchführung bringen half, wodurch diese Strömung, ohne ihre Selbstständigkeit aufzugeben, befruchtend in die württembergische Kirche zurückgeleitet worden ist.
  13. Magn. Fr. Roos, Fundamenta Psychologiae ex s. scr. collecta 1769.
  14. Weismann, gest. 1747: Introductio in memorabilia hist. eccl. Tub. 1718. M. Fr. Roos, Verf. einer christlichen Kirchengeschichte. 2 BB.
  15. Jer. Fr. Reuß hat schätzenswerthe Beiträge zur Ethik geschrieben: Elementa theol. mor. Tub. 1767. Auf den evangel. Glauben sorgfältig zurückgehend, sucht er die Selbstständigkeit und die Vorzüge der christlichen Moral vor der philosophischen oder natürlichen zu beweisen. Von Burk gehört hieher die früher erwähnte Schrift von der Rechtfertigung. Steinhofer und Conr. Rieger haben große Verdienste um ascetische Verwendung der heil. Schrift. Andre hieher gehörige Männer sind: Flattich, Storr d. Ae., Hartmann. Verwandt mit Reuß und Bengels Art, aber selbstständigen und noch mehr philosophischen Geistes ist Chr. Aug. Crusius in Leipzig, Gegner der Wolff’schen Philosophie. Ausgezeichnet ist seine Lehre vom Gewissen. Er hält an dem unauflöslichen Zusammenhang von Religion und Sittlichkeit fest, wobei ihm sein freierer umfassenderer Begriff von Offenbarung zu Statten kommt. Vgl. C. A. Crusius kurzer Begriff der Moraltheologie u. s. w. Leipzig 1772. 1773. 2 Thle. Ihm schlossen sich an Gellert, Rehkopf', Reichard, S. F. R. Morus, s. Stäudlin a. a. O. 2, 643 f. Crusius hat auch um seiner biblisch-theologischen Leistungen willen das schöne Denkmal verdient, das ihm Delitzsch gesetzt hat. 1845.
  16. Vgl. Christoph Hoffmann, Fortschritt und Rückschritt in den letzten zwei Jahrhunderten oder Geschichte des Abfalls. 1865. II, 150 ff.
  17. V. d. Goltz a. a. O. S. 479.
  18. Auberlen, die Theosophie F. Ch. Oetingers mit Vorwort von Rothe, 1847. Auch Hamberger und Ehmann haben um das Gedächtniß Oetingers große Verdienste.
  19. Rothe a. a. O. S. IV.
  20. Vgl. Auberlen a. a. O. S. 55 f.
  21. Vgl. seine Schrift: Die Wahrheit des Sensus communis oder des allgemeinen Sinnes in den nach dem Grundtexte erklärten Sprüchen und Prediger Salomo. Inquisitio in sensum communem, bei Auberlen S. 66.
  22. Auberlen a. a. O. S. 70.
  23. Imm. Swedenborg, Vera christiana religio, continens universam Theologiam Novae Ecclesiae. Amst. 1771. Opp. Vol. 8. ed. princ. Lond. 1749. Summaria expositio doctrinae christianae 1769. De nova Hierosolyma et ejus doctr. coelesti. Lond. 1858. Arcana coelestia 1749. Andres s. bei Schneckenburger Vorlesungen über die Lehrbegriffe der kleineren protestantischen Kirchenparteien, ed. Hundeshagen 1863. S. 221 ff. Haug, die Lehre der neuen Kirche oder des neuen Jerusalems in d. Studien der württemb. Geistlichkeit 1842. Hamberger in Herzogs Realencyclopädie unt. d. Art. Swedenborg.
  24. Esse, fieri, effectus. Schneckenburger erinnert hiebei an Hegel, wie auch neuere Swedenborgianer thun.
  25. Vgl. Hauber, Swedenborgs Lehre von der heil. Schrift. Tüb. Zeitschrift 1840, 4. Haug a. a. O.
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