Stillosigkeiten
Stillosigkeiten.
Was Stil ist, darüber haben sich Gelehrte und Künstler in großen Büchern und kleinen Aufsätzen reichlich ausgesprochen, auf den Kunstgewerbeschulen wird es gelehrt, und verschiedene Zeitschriften für Liebhaber- und sonstige Künste suchen den Begriff in immer weiteren Kreisen zu verbreiten. Die meisten von uns wissen auch, was unter dem Stil einer Zeit oder eines Landes zu verstehen ist, und können einen gotischen Reliquienschrein von einer Renaissancetruhe unterscheiden, fühlen auch, daß etwas nicht in Ordnung ist, wenn sie über einem Chorgestühl aus dem 16. Jahrhundert eine leichtfertige Rokokobekrönung erblicken. Bei alledem nehmen wir uns, und mit Recht, eine gewisse Freiheit im Ausstatten unserer Räume, die so vieles beherbergen müssen, wofür noch keine vergangene Zeit eine Form geschaffen hat.
Es stört auch den Rokokospiegelrahmen an der Wand nicht, daß der Teppich auf dem Boden ein Muster zeigt, das um zweihundert Jahre älter sein könnte, wenn der Teppich echt wäre. Formen und Farben, die sich vertragen, mögen getrost nebeneinander bestehen; wenn ein feines Auge und eine geschickte Hand sie anordnet, kann ein sehr erfreuliches Ganzes daraus werden.
Wer sich den Luxus der Einheit gestatten kann, wird zwar auf ein solch stilloses „Vertragen“ herabsehn; allein dies führt auf die zweite Seite des Stilbegriffs – stilvoll ist nicht nur eine Einrichtung, deren einzelne Bestandteile gemeinsam das Gepräge einer bestimmten Zeit oder Nation tragen: jeder einzelne Gegenstand kann in sich Stil haben, wenn er gewissen Gesetzen gehorcht, welche von Vorzeiten her auf uns gelangt sind und vielleicht am mächtigsten wirkten, ehe sie ausgesprochen und festgelegt waren.
Die pompejanischen Handwerker, welche die jetzt ausgegrabenen Küchengeräte verfertigten, hätten schwerlich Auskunft geben können über das, was den künstlerischen Reiz ihrer Arbeit ausmacht, und die oft so überraschend guten Webereien, Stickereien, Thon- und Metallarbeiten wenig kultivierter Völker entspringen einem naiven Kunstgefühl, das, wie alle Instinkte, durch wachsende Ueberlegung unsicher wird oder wohl ganz verloren geht.
Es existiert ein vielbändiger, illustrierter Katalog von der ersten Weltausstellung, welche im Jahre 1851 zu London abgehalten wurde. Die Ausstattung des Werkes läßt erraten, wie sehr man mit der damals erreichten Stufe des Kunstgewerbes zufrieden war, während sich dieses zu jener Zeit vielleicht auf dem tiefsten Punkt seines Niedergangs befand. Heute erscheint uns das Prachtwerk wie ein Lehrbuch dessen, was man nicht machen soll.
Daß ein Gegenstand bei aller schmückenden Ausgestaltung, „Idealisierung“ nennt sie J. v. Falke, vor allen Dingen so gebildet sein muß, daß er seinem natürlichen Zweck entspricht, scheint den Verfertigern jener technisch oft vollendeten Werke ein überwundener Standpunkt gewesen zu sein. Da zeigt z. B. ein Lehnstuhl als rechte Armlehne einen sitzenden Hund, als linke einen liegenden, lebensgroß und höchst naturwahr aus Holz geschnitzt; als Holzschnitzereien sind die Arbeiten vielleicht recht anerkennenswert – nur daß die Armlehnen zum zwanglos bequemen Aufstützen der Arme erfunden sind, war dabei vergessen.
Ein zweites Gesetz verbietet, den Gegenstand zum Träger einer Idee zu machen, welche mit seinem Zweck in Widerspruch steht. Hiergegen sündigte ein kleiner runder Tisch, dessen Fuß ein kauernder Gladiator bildete; der emporgehobene Schild stellte die Tischplatte vor. Eine der beständig wechselnden Stellungen des Kämpfers war festgehalten, um die Platte zu stützen, die nicht aus der wagerechten Lage kommen darf!
Eine dritte Regel bezieht sich auf die Uebereinstimmung des Materials, aus welchem ein Gegenstand gefertigt ist, mit seinem Zweck, und wieder auf den Einklang zwischen Material und Bearbeitungsweise. Gegen letzteren verstieß ein rechteckiger Tisch aus schönem Holz, dessen Beine der Länge nach durch eine Art Fußleiste verbunden waren; auf dieser Leiste zog sich eine wahre Filigranarbeit, eine aufs zierlichste in [468] feinem Holz geschnitzte Jagd, hin – an einer Stelle, die jedem ungeschickten Stoß, jedem Unfall ausgesetzt ist, und wo nur feste Formen und widerstandsfähige Arbeit angewandt werden sollten.
Betrachtet man solche Beispiele, so sagt man sich gern: „So etwas wäre heute, bei uns, nicht mehr möglich;“ und doch, es ist recht vieles noch möglich, wie uns oft genug ein Blick auf die „Neuheiten“ in unseren Schaufenstern beweist.
Wir haben etwas gelernt, seit zu Anfang der siebziger Jahre die Freude an „unsrer Väter Werken“ neu erwachte und durch Männer wie J. v. Falke in Wien, L. Gedon zu München und J. Lessing in Berlin in neue fruchtbringende Bahnen gelenkt wurde. Damals hatte die Liebe zum „Stilvollen“ so überhand genommen, daß sie sich viel gute und schlechte Witze mußte gefallen lassen. Kunstgewerbeschulen wurden gegründet, bestehende Schulen verbessert; für die Museen brach eine neue Zeit an, sie gewannen Einfluß in weiten Kreisen, und mit dem Studium der überlieferten Formen wuchs das Verständnis für die inneren Gründe und Notwendigkeiten, aus welchen sie entsprungen sind. Der Geist der Alten wurde wieder lebendig – wenn auch nur für kurze Frist.
Die erste, echte Renaissance hatte sich Zeit gelassen zum Wachsen und Blühen und war dann in naturgemäßer Entwicklung fortgeschritten durch die Jahrhunderte, um schließlich in der aller Fesseln spottenden Willkür des späten Rokoko auszuklingen. Wir Modernen machten denselben Entwicklungsgang nochmal durch, wie im Fluge; man tastete bald im Formenvorrat aller Zeitalter umher, wählte nach Mode und Laune, und die Errungenschaften jener zweiten Renaissancezeit gingen zum Teil wieder verloren.
In weniger als zwei Jahrzehnten war man beim Empirestil wieder angekommen, welcher schon in seiner ersten Jugend wenig Lebenskraft besessen hatte, und nun drohte eine Art Ratlosigkeit für die nächste Zukunft – da kam eine neue Anregung, die von der japanischen Kunst ausging, uns aber durch einige stark und originell empfindende englische Künstler vermittelt wurde. Es war eine Rückkehr zur Natur, aber nicht im Sinn kurzsichtiger, gedankenloser Nachahmung; man suchte die Natur zu verstehen, wie sie die Japaner, die alten Meister der Dekorationskunst, auffassen – die bezeichnenden Züge der Naturform wiederzugeben, das Unwesentliche unterzuordnen, wohl auch ganz zu beseitigen, bis zur strengsten Stilisierung, die nur noch die wenigen Grundzüge der Form bewahrt.
Wir haben wieder Tapeten und Stoffe mit Blumenmustern, aber es sind keine Sträuße in natürlichen Farben mit Schattierung, die von den Wänden abzufallen drohen, während rundliche Amoretten sich bemühen, sie festzuhalten. Wir polstern unsere Möbel nicht mehr mit solchen Stoffen, bei denen es vorkommen kann, daß die Mitte eines Engelskindes durch einen Knopf nach unten gezogen wird, während Kopf und Gliedmaßen nach allen Seiten ausstrahlen. Die englischen Tapeten (die zum großen Teil in Deutschland und Holland erfunden werden!) beleben unsere Wände durch wenige harmonisch abgestimmte Farben und ruhige Formen, in welchen der Charakter der Fläche voll zum Ausdruck kommt.
Und wie in England, wenden sich auch bei uns die Künstler wieder mehr und mehr dem Kunstgewerbe zu. Auf der Münchener Kunstausstellung von 1897 warm auch der „Kleinkunst“ die Thüren geöffnet, und die Teilnahme nicht nur des bewundernden, sondern auch des kaufenden Publikums bewies, daß dies ein glücklicher Griff war. Im Jahre 1898 wurde dort dem Kunstgewerbe schon erheblich mehr Raum zugestanden. Indessen pflegt die jüngste Vereinigung von Künstlern und Handwerkern: „Vereinigte Werkstätten“, die neuen Anregungen rührig weiter, sie gewinnen überall mehr und mehr Boden – natürlich nicht, ohne auch Widerspruch herauszufordern. Aber ein Zug von jugendlicher Schaffenskraft und Freude an reizvollen Gebilden der Natur macht recht viele dieser echt modernen Werke anziehend und erfreulich.
Allerdings sind die dargebotenen Werke meist auch aus gutem Material und vielfach Handarbeit; es wird wohl noch eine Weile dauern, bis etwas davon auch in die Massenfabrikation dringt; aber in einer Art können wir alle beitragen, um dem guten Geschmack zum Siege zu verhelfen: vermögen wir nicht, das Gute zu verbreiten, so können wir doch dem Schlechten entgegenwirken, d. h. Dinge nicht um uns dulden, die den ersten Anforderungen des Stils ins Gesicht schlagen.
Man sticke nicht Lohengrins Abschied von Elsa auf Handtücher; ihre holden Züge vertragen die Darstellung in verschiedenfarbigem Garn nicht. Ein Tintenfaß in Form eines Raketts mit höchst natürlich daraufliegendem Federball stelle man nicht auf seinen Schreibtisch: ein Unbefangener nimmt es in die Hand und stülpt es auf sich selbst und den Smyrnateppich um. Aber auch der beliebte Puppenkopf als Tintenfaß, dem man die Schädeldecke abhebt, um die Feder einzutauchen, hat etwas Grausames. Dazu sieht die junge Dame meist nicht aus, als ob aus ihrem Gehirn viel zu holen wäre. Eine Nähmaschine, die durch Anstrich in weiß und blauem Zwiebelmuster den Anschein von Porzellan erhält, ist ebenso widersinnig wie die Blumenvase, welche mit aller Kunst in Porzellan einen Sack von geblümtem Cretonne nachahmt. Eine andere Blumenvase leidet an demselben Fehler wie der oben erwähnte Gladiatorentisch: den Blumenbehälter bildet ein großes Wollknäuel, welches ein spielendes Kätzchen, auf dem Rücken liegend, zwischen den Pfoten hält; im nächsten Augenblick erwartet man, das Knäuel samt Blumen und Wasser wegrollen zu sehen. Auch gegen das Porzellanschwein, aus dessen offenem Rücken man die Zahnstocher holt, ließe sich einiges vorbringen – wie gegen ähnliche Erscheinungen, die sich nur allzu leicht finden.
Vor Jahren hielt der bekannte Kunsthistoriker Wilhelm Lübke einen Vortrag für das größere Publikum, worin er ziemlich scharf gegen Stil- und Geschmacklosigkeiten vorging; kurz darauf hörte seine Gattin in einem ersten Stickereigeschaft der Unterhaltung des Ladeninhabers mit einer jungen Dame zu, die einen gestickten Fußschemel zum Montieren brachte. „Aber, Fräulein,“ sagte der Mann, „so etwas sticken Sie noch nach dem Vortrag vom Herrn Professor?“ – „Ach, seien Sie still,“ antwortete sie errötend, „der Mops da war schon vor dem Vortrag gestickt; ich thu’s nie wieder!“
Hoffentlich hat sie Wort gehalten.