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Studien über Hysterie/Beobachtung II. Frau Emmy v. N…

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Beobachtung I. Frl. Anna O… Studien über Hysterie (1895)
von Sigmund Freud, Josef Breuer
Beobachtung III. Frl. Lucie R…
[37]
II. Frau Emmy v. N ..., 40 Jahre, aus Livland (Freud).

Am 1. Mai 1889 wurde ich der Arzt einer etwa 40jährigen Dame, deren Leiden wie deren Persönlichkeit mir soviel Interesse einflössten, dass ich ihr einen grossen Theil meiner Zeit widmete und mir ihre Herstellung [38] zur Aufgabe machte. Sie war Hysterica, mit grösster Leichtigkeit in Somnambulismus zu versetzen, und als ich dies merkte, entschloss ich mich, das Breuer´sche Verfahren der Ausforschung in der Hypnose bei ihr anzuwenden, das ich aus den Mittheilungen Breuer's über die Heilungsgeschichte seiner ersten Patientin kannte. Es war mein erster Versuch in der Handhabung dieser therapeutischen Methode, ich war noch weit davon entfernt, dieselbe zu beherrschen, und habe in der That die Analyse der Krankheitsymptome weder weit genug getrieben, noch sie genügend planmässig verfolgt. Vielleicht wird es mir am besten gelingen, den Zustand der Kranken und mein ärztliches Vorgehen anschaulich zu machen, wenn ich die Aufzeichnungen wiedergebe, die ich mir in den ersten 3 Wochen der Behandlung allabendlich gemacht habe. Wo mir nachherige Erfahrung ein besseres Verständniss ermöglicht hat, werde ich es in Noten und Zwischenbemerkungen zum Ausdruck bringen:

1. Mai 1889. Ich finde eine noch jugendlich aussehende Frau mit feinen, charakteristisch geschnittenen Gesichtszügen auf dem Divan liegend, eine Lederrolle unter dem Nacken. Ihr Gesicht hat einen gespannten, schmerzhaften Ausdruck, die Augen sind zusammengekniffen, der Blick gesenkt, die Stirne stark gerunzelt, die Nasolabialfalten vertieft. Sie spricht wie mühselig, mit leiser Stimme, gelegentlich durch spastische Sprachstockung bis zum Stottern unterbrochen. Dabei hält sie die Finger in einander verschränkt, die eine unaufhörliche Athetoseartige Unruhe zeigen. Häufige tickartige Zuckungen im Gesicht und an den Halsmuskeln, wobei einzelne, besonders der r. Sternocleidomastoideus plastisch vorspringen. Ferner unterbricht sie sich häufig in der Rede, um ein eigenthümliches Schnalzen hervorzubringen, das ich nicht nachahmen kann.[1]

Was sie spricht, ist durchaus zusammenhängend und bezeugt offenbar eine nicht gewöhnliche Bildung und Intelligenz. Umso befremdender ist es, dass sie alle paar Minuten plötzlich abbricht, das Gesicht zum Ausdruck des Grausens und Ekels verzieht, die Hand mit gespreizten und gekrümmten Fingern gegen mich ausstreckt und dabei mit veränderter, angsterfüllter Stimme die Worte ruft: „Seien Sie still, – reden Sie nichts, – rühren Sie mich nicht an!“ Sie steht wahrscheinlich unter dem Eindrucke einer wiederkehrenden grauenvollen [39] Hallucination und wehrt die Einmengung des Fremden mit dieser Formel ab.[2] Diese Einschaltung schliesst dann ebenso plötzlich ab, und die Kranke setzt ihre Rede fort, ohne die eben vorhandene Erregung weiterzuspinnen, ohne ihr Benehmen zu erklären oder zu entschuldigen, also wahrscheinlich ohne die Unterbrechung selbst bemerkt zu haben.[3]

Von ihren Verhältnissen erfahre ich Folgendes: Ihre Familie stammt aus Mitteldeutschland, ist seit zwei Generationen in den russischen Ostseeprovinzen ansässig und dort reich begütert. Sie waren 14 Kinder, sie selbst das 13. davon, es sind nur noch 4 am Leben. Sie wurde von einer überthatkräftigen, strengen Mutter sorgfältig, aber mit viel Zwang erzogen. Mit 23 Jahren heiratete sie einen hochbegabten und tüchtigen Mann, der sich als Grossindustrieller eine hervorragende Stellung erworben hatte, aber viel älter war als sie. Er starb nach kurzer Ehe plötzlich am Herzschlag. Dieses Ereigniss sowie die Erziehung ihrer beiden jetzt 16 und 14 Jahre alten Mädchen, die vielfach kränklich waren und an nervösen Störungen litten, bezeichnet sie als die Ursachen ihrer Krankheit. Seit dem Tode ihres Mannes vor 14 Jahren ist sie in schwankender Intensität immer krank gewesen. Vor 4 Jahren hat eine Massagecur in Verbindung mit elektrischen Bädern ihr vorübergehend Erleichterung gebracht, sonst blieben alle ihre Bemühungen, ihre Gesundheit wieder zu gewinnen, erfolglos. Sie ist viel gereist und hat zahlreiche und lebhafte Interessen. Gegenwärtig bewohnt sie einen Herrensitz an der Ostsee in der Nähe einer grossen Stadt. Seit Monaten wieder schwer leidend, verstimmt und schlaflos, von Schmerzen gequält, hat sie in Abbazia vergebens Besserung gesucht, ist seit sechs Wochen in Wien, bisher in Behandlung eines hervorragenden Arztes.

Meinen Vorschlag, sich von den beiden Mädchen, die ihre Gouvernante haben, zu trennen und in ein Sanatorium einzutreten, in dem ich sie täglich sehen kann, nimmt sie ohne ein Wort der Einwendung an.

[40] Am 2. Mai abends besuche ich sie im Sanatorium. Es fällt mir auf, dass sie jedesmal so heftig zusammenschrickt, sobald die Thüre unerwartet aufgeht. Ich veranlasse daher, dass die besuchenden Hausärzte und das Wartepersonale kräftig anklopfen und nicht eher eintreten, als bis sie „Herein“ gerufen hat. Trotzdem grinst und zuckt sie noch jedesmal, wenn jemand eintritt.

Ihre Hauptklage bezieht sich heute auf Kälteempfindung und Schmerzen im rechten Bein, die vom Rücken oberhalb des Darmbeinkammes ausgehen. Ich ordne warme Bäder an und werde sie zweimal täglich am ganzen Körper massiren.

Sie ist ausgezeichnet zur Hypnose geeignet. Ich halte ihr einen Finger vor, rufe ihr zu: Schlafen Sie! und sie sinkt mit dem Ausdruck von Betäubung und Verworrenheit zurück. Ich suggerire Schlaf, Besserung aller Symptome u. dgl., was sie mit geschlossenen Augen, aber unverkennbar gespannter Aufmerksamkeit anhört, und wobei ihre Miene sich allmählich glättet und einen friedlichen Ausdruck annimmt. Nach dieser ersten Hypnose bleibt eine dunkle Erinnerung an meine Worte; schon nach der zweiten tritt vollkommener Somnambulismus (Amnesie) ein. Ich hatte ihr angekündigt, dass ich sie hypnotisiren würde, worauf sie ohne Widerstand einging. Sie ist noch nie hypnotisirt worden, ich darf aber annehmen, dass sie über Hypnose gelesen hat, wiewohl ich nicht weiss, welche Vorstellung über den hypnotischen Zustand sie mitbrachte.[4]

Die Behandlung mit warmen Bädern, zweimaliger Massage und hypnotischer Suggestion wurde in den nächsten Tagen fortgesetzt. Sie schlief gut, erholte sich zusehends, brachte den grösseren Theil des Tages in ruhiger Krankenlage zu. Es war ihr nicht untersagt, ihre Kinder zu sehen, zu lesen und ihre Correspondenz zu besorgen.

Am 8. Mai morgens unterhält sie mich, anscheinend ganz normal, von gräulichen Thiergeschichten. Sie hat in der Frankfurter Zeitung, die vor ihr auf dem Tische liegt, gelesen, dass ein Lehrling einen [41] Knaben gebunden und ihm eine weisse Maus in den Mund gesteckt; der sei vor Schreck darüber gestorben. Dr. K. ... habe ihr erzählt, dass er eine ganze Kiste voll weisser Ratten nach Tiflis geschickt. Dabei treten alle Zeichen des Grausens höchst plastisch hervor. Sie krampft mehrmals nach einander mit der Hand. – „Seien Sie still, reden Sie nichts, rühren Sie mich nicht an! – Wenn so ein Thier im Bett wäre! (Grausen.) Denken Sie sich, wenn das ausgepackt wird! Es ist eine todte Ratte darunter, eine an-ge-nagte!“

In der Hypnose bemühe ich mich, diese Thierhallucinationen zu verscheuchen. Während sie schläft, nehme ich die Frankfurter Zeitung zur Hand; ich finde in der That die Geschichte der Misshandlung eines Lehrbuben, aber ohne Beimengung von Mäusen oder Ratten. Das hat sie also während des Lesens hinzudelirirt.

Am Abend erzähle ich ihr von unserer Unterhaltung über die weissen Mäuse. Sie weiss nichts davon, ist sehr erstaunt und lacht herzlich.[5]

Am Nachmittage war ein sogenannter „Genickkrampf“[6] gewesen, aber „nur kurz, von zweistündiger Dauer“.

Am 8. Mai abends fordere ich sie in der Hypnose zum Reden auf, was ihr nach einiger Anstrengung gelingt. Sie spricht leise, besinnt sich jedesmal einen Moment, ehe sie Antwort gibt. Ihre Miene verändert sich entsprechend dem Inhalt ihrer Erzählung und wird ruhig, sobald meine Suggestion dem Eindruck der Erzählung ein Ende gemacht hat. Ich stelle die Frage, warum sie so leicht erschrickt. Sie antwortet: Das sind Erinnerungen aus frühester Jugend. – Wann? – Zuerst mit 5 Jahren, als meine Geschwister so oft todte Thiere nach mir warfen, da bekam ich den ersten Ohnmachtsanfall mit Zuckungen, aber meine Tante sagte, das sei abscheulich, solche Anfälle darf man nicht haben, und da haben sie aufgehört. Dann mit 7 Jahren, als ich unvermuthet [42] meine Schwester im Sarge gesehen, dann mit 8 Jahren, als mich mein Bruder so häufig durch weisse Tücher als Gespenst erschreckte, dann mit 9 Jahren, als ich die Tante im Sarge sah, und ihr – plötzlich – der Unterkiefer herunterfiel.

Die Reihe von traumatischen Anlässen, die mir als Antwort auf meine Frage mitgetheilt wird, warum sie so schreckhaft sei, liegt offenbar in ihrem Gedächtniss bereit; sie hätte in dem kurzen Moment von meiner Frage bis zu ihrer Beantwortung derselben die Anlässe aus zeitlich verschiedenen Perioden ihrer Jugend nicht so schnell zusammensuchen können. Am Schlusse einer jeden Theilerzählung bekommt sie allgemeine Zuckungen und zeigt ihre Miene Schreck und Grausen, nach der letzten reisst sie den Mund weit auf und schnappt nach Athem. Die Worte, welche den schreckhaften Inhalt des Erlebnisses mittheilen, werden mühselig, keuchend hervorgestosen; nachher beruhigen sich ihre Züge.

Auf meine Frage bestätigt sie, dass sie während der Erzählung die betreffenden Scenen plastisch und in natürlichen Farben vor sich sehe. Sie denke an diese Erlebnisse überhaupt sehr häufig und habe auch in den letzten Tagen wieder daran gedacht. Sowie sie daran denke, sehe sie die Scene jedesmal vor sich mit aller Lebhaftigkeit der Realität.[7] Ich verstehe jetzt, warum sie mich so häufig von Thierscenen und Leichenbildern unterhält. Meine Therapie besteht darin, diese Bilder wegzuwischen, so dass sie dieselben nicht wieder vor Augen bekommen kann. Zur Unterstützung der Suggestion streiche ich ihr mehrmals über die Augen.

9. Mai abends. Sie hat ohne erneuerte Suggestion gut geschlafen, aber morgens Magenschmerzen gehabt. Sie bekam dieselben schon gestern im Garten, wo sie zu lange mit ihren Kindern verweilte. Sie gestattet, dass ich den Besuch der Kinder auf 2½ Stunden einschränke; vor wenigen Tagen noch hatte sie sich Vorwürfe gemacht, dass sie die Kinder allein lasse. Ich finde sie heute etwas erregt, mit krauser Stirne, Schnalzen und Sprachstocken. Während der Massage erzählt sie uns, dass ihr die Gouvernante der Kinder einen culturhistorischen Atlas gebracht, und dass sie über Bilder darin, welche als Thiere verkleidete Indianer darstellen, so heftig erschrocken sei. „Denken Sie, wenn die lebendig würden!“ (Grausen.)

In der Hypnose frage ich, warum sie sich vor diesen Bildern so geschreckt, da sie sich doch vor Thieren nicht mehr fürchte? Sie [43] hätten sie an Visionen erinnert, die sie beim Tode ihres Bruders gehabt. (Mit 19 Jahren.) Ich spare diese Erinnerung für später auf. Ferner frage ich, ob sie immer mit diesem Stottern gesprochen und seit wann sie den Tick (das eigenthümliche Schnalzen) habe.[8] Das Stottern sei eine Krankheitserscheinung, und den Tick habe sie seit 5 Jahren, seitdem sie einmal beim Bett der sehr kranken jüngeren Tochter sass und sich ganz ruhig verhalten wollte. – Ich versuche die Bedeutung dieser Erinnerung abzuschwächen, der Tochter sei ja nichts geschehen u. s. w. Sie: es komme jedesmal wieder, wenn sie sich ängstige oder erschrecke. – Ich trage ihr auf, sich vor den Indianerbildern nicht zu fürchten, vielmehr herzlich darüber zu lachen und mich selbst darauf aufmerksam zu machen. So geschieht es auch nach dem Erwachen; sie sucht das Buch, fragt, ob ich es eigentlich schon gesehen habe, schlägt mir das Blatt auf und lacht aus vollem Halse über die grotesken Figuren, ohne jede Angst, mit ganz glatten Zügen. Dr. Breuer kommt plötzlich zu Besuch in Begleitung des[WS 1] Hausarztes. Sie erschrickt und schnalzt, so dass die Beiden uns sehr bald verlassen. Sie erklärt ihre Erregung dadurch, dass sie das jedesmalige Miterscheinen des Hausarztes unangenehm berühre.

Ich hatte in der Hypnose ferner den Magenschmerz durch Streichen weggenommen und gesagt, sie werde nach dem Essen die Wiederkehr des Schmerzes zwar erwarten, er aber doch ausbleiben.

Abends. Sie ist zum erstenmal heiter und gesprächig, entwickelt einen Humor, den ich bei dieser ernsten Frau nicht gesucht hätte, und macht sich unter anderem im Vollgefühl ihrer Besserung über die Behandlung meines ärztlichen Vorgängers lustig. Sie hätte schon lange die Absicht gehabt, sich dieser Behandlung zu entziehen, konnte aber die Form nicht finden, bis eine zufällige Bemerkung von Dr. Breuer, der sie einmal besuchte, sie auf einen Ausweg brachte. Da ich über diese Mittheilung erstaunt scheine, erschrickt sie, macht sich die heftigsten Vorwürfe, eine Indiscretion begangen zu haben, lässt sich aber von mir anscheinend beschwichtigen. – Keine Magenschmerzen, trotzdem sie dieselben erwartet hat.

In der Hypnose frage ich nach weiteren Erlebnissen, bei denen sie nachhaltig erschrocken sei. Sie bringt eine zweite solche Reihe aus ihrer späteren Jugend ebenso prompt wie die erstere und versichert wiederum, dass sie alle diese Scenen häufig, lebhaft und in Farben vor sich sehe. Wie sie ihre Cousine ins Irrenhaus führen sah (mit [44] 15 Jahren); sie wollte um Hilfe rufen, konnte aber nicht und verlor die Sprache bis zum Abend dieses Tages. Da sie in ihrer wachen Unterhaltung so häufig von Irrenhäusern spricht, unterbreche ich sie und frage nach den anderen Gelegenheiten, bei denen es sich um Irre gehandelt hat. Sie erzählt, ihre Mutter war selbst einige Zeit im Irrenhaus. Sie hätten einmal eine Magd gehabt, deren Frau lange im Irrenhaus war, und die ihr Schauergeschichten zu erzählten pflegte, wie dort die Kranken an Stühle angebunden seien, gezüchtigt werden u. dgl. Dabei krampfen sich ihre Hände vor Grausen, sie sieht dies alles vor Augen. Ich bemühe mich, ihre Vorstellungen von einem Irrenhaus zu corrigiren, versichere ihr, sie werde von einer solchen Anstalt hören können, ohne eine Beziehung auf sich zu verspüren, und dabei glättet sich ihr Gesicht.

Sie fährt in der Aufzählung ihrer Schreckerinnerungen fort: Wie sie ihre Mutter, vom Schlage gerührt, auf dem Boden liegen fand (mit 15 Jahren), die dann noch 4 Jahre lebte, und wie sie mit 19 Jahren einmal nach Hause kam und die Mutter todt fand, mit verzerrtem Gesicht. Diese Erinnerungen abzuschwächen, bereitet mir natürlich grössere Schwierigkeiten, ich versichere nach längerer Auseinandersetzung, dass sie auch dieses Bild nur verschwommen und kraftlos wiedersehen wird. – Ferner wie sie mit 19 Jahren unter einem Stein, den sie aufgehoben, eine Kröte gefunden und darüber die Sprache für Stunden verloren.[9]

Ich überzeuge mich in dieser Hypnose, dass sie alles weiss, was in der vorigen Hypnose vorgekommen, während sie im Wachen nichts davon weiss.

Am 10. Mai morgens: Sie hat heute zum erstenmal anstatt eines warmen Bades ein Kleienbad genommen. Ich finde sie mit verdriesslichem, krausem Gesicht, die Hände in einen Shawl eingehüllt, über Kälte und Schmerzen klagend. Befragt, was ihr sei, erzählt sie, sie habe in der zu kurzen Wanne unbequem gesessen und davon Schmerzen bekommen. Während der Massage beginnt sie, dass sie sich doch wegen des gestrigen Verrathes an Dr. Breuer kränke; ich beschwichtige sie durch die fromme Lüge, dass ich von Anfang an darum wusste, und damit ist ihre Aufregung (Schnalzen, Gesichtscontractur) behoben. So macht sich jedesmal schon während der Massage mein Einfluss geltend, sie wird ruhiger und klarer und findet auch ohne hypnotisches Befragen die Gründe ihrer jedesmaligen Verstimmung. Auch das Gespräch, das sie während des Massirens mit mir führt, [45] ist nicht so absichtslos, als es den Anschein hat; es enthält vielmehr die ziemlich vollständige Reproduction der Erinnerungen und neuen Eindrücke, die sie seit unserem letzten Gespräch beeinflusst haben, und läuft oft ganz unerwartet auf pathogene Reminiscenzen aus, die sie sich unaufgefordert abspricht. Es ist, als hätte sie sich mein Verfahren zu eigen gemacht und benützte die anscheinend ungezwungene und vom Zufall geleitete Conversation zur Ergänzung der Hypnose. So kommt sie z. B. heute auf ihre Familie zu reden und gelangt auf allerlei Umwegen zur Geschichte eines Cousins, der ein beschränkter Sonderling war und dem seine Eltern sämmtliche Zähne auf einem Sitze ziehen liessen. Diese Erzählung begleitet sie mit den Geberden des Grausens und mit mehrfacher Wiederholung ihrer Schutzformel (Seien sie still! – Reden Sie nichts! – Rühren Sie mich nicht an!). Darauf wird ihre Miene glatt, und sie ist heiter. So wird ihr Benehmen während des Wachens doch durch die Erfahrungen geleitet, die sie im Somnambulismus gemacht hat, von denen sie im Wachen nichts zu wissen glaubt.

In der Hypnose wiederhole ich die Frage, was sie verstimmt hat, und erhalte dieselben Antworten, aber in umgekehrter Reihenfolge: 1. ihre Schwatzhaftigkeit von gestern, 2. die Schmerzen vom unbequemen Sitzen im Bade. – Ich frage heute, was die Redensart: Seien Sie still etc. bedeutet. Sie erklärt, wenn sie ängstliche Gedanken habe, fürchte sie, in ihrem Gedankengange unterbrochen zu werden, weil sich dann alles verwirre und noch ärger sei. Das „Seien Sie still“ beziehe sich darauf, dass die Thiergestalten, die ihr in schlechten Zuständen erscheinen, in Bewegung gerathen und auf sie losgehen, wenn jemand vor ihr eine Bewegung mache; endlich die Mahnung; „Rühren Sie mich nicht an“ komme von folgenden Erlebnissen: Wie ihr Bruder vom vielen Morphin so krank war und so grässliche Anfälle hatte (mit 19 Jahren) habe er sie oft plötzlich angepackt; dann sei einmal ein Bekannter in ihrem Hause plötzlich wahnsinnig geworden und habe sie am Arme gefasst; (ein dritter ähnlicher Fall, an den sie sich nicht genauer besinnt) und endlich, wie ihre Kleine so krank gewesen (mit 28 Jahren), habe sie sie im Delirium so heftig gepackt, dass sie fast erstickt wäre. Diese 4 Fälle hat sie – trotz der grossen Zeitdifferenzen – in einem Satz und so rasch hinter einander erzählt, als ob sie ein einzelnes Ereigniss in 4 Acten bilden würden. Alle ihre Mittheilungen solcher gruppirter Traumen beginnen übrigens mit „Wie“ und die einzelnen Partialtraumen sind durch „und“ an einander gereiht. [46] Da ich merke, dass die Schutzformel dazu bestimmt ist, sie vor der Wiederkehr ähnlicher Erlebnisse zu bewahren, benehme ich ihr diese Furcht durch Suggestion, und ich habe wirklich die Formel nicht wieder von ihr gehört.

Abends finde ich sie sehr heiter. Sie erzählt lachend, dass sie im Garten über einen kleinen Hund, der sie angebellt, erschrocken ist. Doch ist das Gesicht ein wenig verzogen und eine innere Erregung vorhanden, die erst schwindet, nachdem sie mich befragt, ob ich eine Bemerkung von ihr übel genommen, die sie während der Frühmassage gemacht hatte, und ich dies verneint. Die Periode ist heute nach kaum 14tägiger Pause wieder eingetreten. Ich verspreche ihr Regelung durch hypnotische Suggestion und bestimme in der Hypnose ein Intervall von 28 Tagen.[10]

In der Hypnose frage ich ferner, ob sie sich erinnere, was sie mir zuletzt erzählt hat, und habe dabei eine Aufgabe im Sinne, die uns von gestern abends übrig geblieben ist. Sie beginnt aber correcter Weise mit dem „Rühren Sie mich nicht an“ der Vormittagshypnose. Ich führe sie also auf das gestrige Thema zurück. Ich hatte gefragt: Woher das Stottern gekommen sei, und die Antwort bekommen: Ich weiss es nicht.[11] Darum hatte ich ihr aufgetragen, sich bis zur heutigen Hypnose daran zu erinnern. Heute antwortet sie also ohne weiteres Nachdenken, aber in grosser Erregung und mit spastisch erschwerter Sprache: Wie einmal die Pferde mit dem Wagen, in dem die Kinder sassen, durchgegangen sind, und wie ein andermal ich mit den Kindern während eines Gewitters durch den Wald fuhr, und der Blitz gerade in einen Baum vor den Pferden einschlug, und die Pferde scheuten und ich mir dachte: Jetzt musst du ganz stille bleiben, sonst erschreckst du die Pferde noch mehr durch dein Schreien, und der Kutscher kann sie gar nicht zurückhalten: von da an ist es aufgetreten. Diese Erzählung hat sie ungemein erregt; ich erfahre noch von ihr, dass das Stottern gleich nach dem ersten der beiden Anlässe aufgetreten, aber nach kurzer Zeit verschwunden sei, um vom zweiten ähnlichen Anlass an stetig zu bleiben. Ich lösche die plastische Erinnerung an [47] diese Scenen aus, fordere sie aber auf, sich dieselben nochmals vorzustellen. Sie scheint es zu versuchen und bleibt dabei ruhig, auch spricht sie von da an in der Hypnose ohne jenes spastische Stocken.[12]

Da ich sie disponirt finde, mir Aufschlüsse zu geben, stelle ich die weitere Frage, welche Ereignisse ihres Lebens sie noch ferner derart erschreckt haben, dass sie die plastische Erinnerung an sie bewahrt hat. Sie antwortet mit einer Sammlung solcher Erlebnisse: Wie sie ein Jahr nach dem Tode ihrer Mutter bei einer ihr befreundeten Französin war und dort mit einem andern Mädchen in’s nächste Zimmer geschickt wurde, um ein Lexikon zu holen und dann aus dem Bette eine Person sich erheben sah, die genau so aussah wie jene, die sie eben verlassen hatte. Sie blieb steif wie angewurzelt stehen. Später hörte sie, es sei eine hergerichtete Puppe gewesen. Ich erkläre diese Erscheinung für eine Hallucination, appellire an ihre Aufklärung, und ihr Gesicht glättet sich.

Wie sie ihren kranken Bruder gepflegt und er in Folge des Morphins so grässliche Anfälle bekam, in denen er sie erschreckte und anpackte. Ich merke, dass sie von diesem Erlebniss schon heute früh gesprochen, und frage sie darum zur Probe, wann dieses „Anpacken“ noch vorgekommen. Zu meiner freudigen Ueberraschung besinnt sie sich diesmal lange mit der Antwort und fragt endlich unsicher: Die Kleine? An die beiden anderen Anlässe (s. o.) kann sie sich gar nicht besinnen. Mein Verbot, das Auslöschen der Erinnerungen, hat also gewirkt. – Weiter: Wie sie ihren Bruder gepflegt und die Tante plötzlich den bleichen Kopf über den Paravent gestreckt, die gekommen war, um ihn zum katholischen Glauben zu bekehren. – Ich merke, dass ich hiemit an die Wurzel ihrer beständigen Furcht vor Ueberraschungen gekommen bin, und frage, wann sich solche noch zugetragen haben. – Wie sie zu Hause einen Freund hatten, der es liebte, sich ganz leise in’s Zimmer zu schleichen, und dann plötzlich da stand; wie sie nach dem Tode der Mutter so krank wurde, in einen Badeort kam; und dort eine Geisteskranke durch Irrthum mehrmals bei Nacht in ihr Zimmer und bis an ihr Bett kam; und endlich wie [48] auf ihrer Reise von Abbazia hieher ein fremder Mann 4mal plötzlich ihre Coupéthür aufmachte und sie jedesmal starr ansah. Sie erschrak darüber so sehr, dass sie den Schaffner rief.

Ich verwische alle diese Erinnerungen, wecke sie auf und versichere ihr, dass sie diese Nacht gut schlafen werde, nachdem ich es unterlassen, ihr die entsprechende Suggestion in der Hypnose zu geben. Für die Besserung ihres Allgemeinzustandes zeugt ihre Bemerkung, sie habe heute nichts gelesen, sie lebe so in einem glücklichen Traum, sie, die sonst vor innerer Unruhe beständig etwas thun musste.

11. Mai früh. Auf heute ist das Zusammentreffen mit dem Gynaekologen Dr. N .. angesagt, der ihre älteste Tochter wegen ihrer menstrualen Beschwerden untersuchen soll. Ich finde Frau Emmy in ziemlicher Unruhe, die sich aber jetzt durch geringfügigere körperliche Zeichen äussert als früher; auch ruft sie von Zeit zu Zeit: Ich habe Angst, solche Angst, ich glaube, ich muss sterben. Wovor sie denn Angst habe, ob vor Dr. N ..? Sie wisse es nicht, sie habe nur Angst. In der Hypnose, die ich noch vor dem Eintreffen des Collegen vornehme, gesteht sie, sie fürchte, mich durch eine Aeusserung gestern während der Massage, die ihr unhöflich erschien, beleidigt zu haben. Auch fürchte sie sich vor allem Neuen, also auch vor dem neuen Doctor. Sie lässt sich beschwichtigen, fährt vor Dr. N .. zwar manchmal zusammen, benimmt sich aber sonst gut und zeigt weder Schnalzen noch Sprechhemmung. Nach seinem Fortgehen versetze ich sie neuerdings in Hypnose, um die etwaigen Beste der Erregung von seinem Besuch her wegzunehmen. Sie ist mit ihrem Benehmen selbst sehr zufrieden, setzt auf seine Behandlung grosse Hoffnungen, und ich suche ihr an diesem Beispiel zu zeigen, dass man sich vor dem Neuen nicht zu fürchten brauche, da es auch das Gute in sich schliesse.[13]

Abends ist sie sehr heiter und entledigt sich vieler Bedenklichkeiten in dem Gespräch vor der Hypnose. In der Hypnose frage ich, welches Ereigniss ihres Lebens die nachhaltigste Wirkung geübt habe und am öftesten als Erinnerung bei ihr auftauche. – Der Tod ihres Mannes. – Ich lasse mir dieses Erlebniss mit allen Einzelheiten von ihr erzählen, was sie mit den Zeichen tiefster Ergriffenheit thut, aber ohne alles Schnalzen und Stottern.

[49] Wie sie in einem Orte an der Riviera, den sie beide sehr liebten, einst über eine Brücke gegangen und er von einem Herzkrampf ergriffen, plötzlich umsank, einige Minuten wie leblos dalag, dann aber wohlbehalten aufstand. Wie dann kurze Zeit darauf, als sie im Wochenbett mit der Kleinen lag, der Mann, der an einem kleinen Tisch vor ihrem Bett frühstückte und die Zeitung las, plötzlich aufstand, sie so eigenthümlich ansah, einige Schritte machte und dann todt zu Boden fiel. Sie sei aus dem Bette; die herbeigeholten Aerzte hätten Belebungsversuche gemacht, die sie aus dem anderen Zimmer mitangehört; aber es sei vergebens gewesen. Sie fährt dann fort: Und wie das Kind, das damals einige Wochen alt war, so krank geworden und durch 6 Monate krank geblieben sei, während welcher Zeit sie selbst mit heftigem Fieber bettlägerig war; – und nun folgen chronologisch geordnet ihre Beschwerden gegen dieses Kind, die mit ärgerlichem Gesichtsausdruck rasch hervorgestossen werden, wie wenn man von jemandem spricht, dessen man überdrüssig geworden ist. Es sei lange Zeit sehr eigenthümlich gewesen, hätte immer geschrien und nicht geschlafen, eine Lähmung des linken Beines bekommen, an deren Heilung man fast verzweifelte; mit 4 Jahren habe es Visionen gehabt, sei erst spät gegangen und habe spät gesprochen, so dass man es lange für idiotisch hielt; es habe nach der Aussage der Aerzte Gehirn- und Rückenmarksentzündung gehabt, und was nicht alles sonst. Ich unterbreche sie hier, weise darauf hin, dass dieses selbe Kind heute normal und blühend sei, und nehme ihr die Möglichkeit, alle diese traurigen Dinge wieder zu sehen, indem ich nicht nur die plastische Erinnerung verlösche, sondern die ganze Reminiscenz aus ihrem Gedächtniss löse, als ob sie nie darin gewesen wäre. Ich verspreche ihr davon das Aufhören der Unglückserwartung, die sie beständig quält, und der Schmerzen im ganzen Körper, über die sie gerade während der Erzählung geklagt hatte, nachdem mehrere Tage von ihnen nicht die Rede gewesen war.[14]

[50] Zu meiner Ueberraschung beginnt sie unmittelbar nach dieser meiner Suggestion von dem Fürsten L .. zu reden, dessen Entweichung aus einem Irrenhause damals von sich reden machte, kramt neue Angstvorstellungen über Irrenhäuser aus, dass dort die Leute mit eiskaltem Douchen auf den Kopf behandelt, in einen Apparat gesetzt und so lange gedreht würden, bis sie ruhig sind. Ich hatte sie vor 3 Tagen, als sie über die Irrenhausfurcht zuerst klagte, nach der ersten Erzählung, dass die Kranken dort auf Sessel gebunden würden, unterbrochen. Ich merke, dass ich dadurch nichts erreiche, dass ich mir’s doch nicht ersparen kann, sie in jedem Punkt bis zu Ende anzuhören. Nachdem dies nachgeholt ist, nehme ich ihr auch die neuen Schreckbilder weg, appellire an ihre Aufklärung, und dass sie mir doch mehr glauben darf als dem dummen Mädchen, von dem sie die Schauergeschichten über die Einrichtung der Irrenhäuser hat. Da ich bei diesen Nachträgen doch gelegentlich etwas Stottern bemerke, frage ich sie von Neuem, woher das Stottern rührt. – Keine Antwort. – Wissen Sie es nicht? – Nein. – Ja warum nicht? – Warum? Weil ich nicht darf (was heftig und ärgerlich hervorgestossen wird). Ich glaube in dieser Aeusserung einen Erfolg meiner Suggestion zu sehen, sie äussert aber das Verlangen, aus der Hypnose geweckt zu werden, dem ich willfahre.[15]

12. Mai. Sie hat wider mein Erwarten kurz und schlecht geschlafen. Ich finde sie in grosser Angst, übrigens ohne die gewohnten körperlichen Zeichen derselben. Sie will nicht sagen, was ihr ist; nur, dass sie schlecht geträumt hat und noch immer dieselben Dinge sieht. „Wie grässlich, wenn die lebendig werden sollten.“ Während der Massage macht sie einiges durch Fragen ab, wird dann heiter, erzählt von ihrem Verkehr auf ihrem Witwensitz an der Ostsee, von den bedeutenden Männern, die sie aus der benachbarten Stadt als Gäste zu laden pflegt und dgl.

[51] Hypnose. Sie hat schrecklich geträumt, die Stuhlbeine und Sessellehnen waren alle Schlangen, ein Ungeheuer mit einem Geierschnabel hat auf sie losgehackt und sie am ganzen Körper angefressen, andere wilde Thiere sind auf sie losgesprungen und dgl. Dann übergeht sie sofort auf andere Thierdelirien, die sie aber durch den Zusatz ausgezeichnet: Das war wirklich (kein Traum). Wie sie (früher einmal) nach einem Knäuel Wolle greifen wollte, und der war eine Maus und lief weg, wie auf einem Spaziergang eine grosse Kröte plötzlich auf sie losgesprungen u. s. f. Ich merke, dass mein generelles Verbot nichts gefruchtet hat, und dass ich ihr solche Angsteindrücke einzeln abnehmen muss.[16] Auf irgend einem Weg kam ich dann dazu, sie zu fragen, warum sie auch Magenschmerzen bekommen habe, und woher diese stammen. Ich glaube, Magenschmerzen begleiteten bei ihr jeden Anfall von Zoopsie. Ihre ziemlich unwillige Antwort war, das wisse sie nicht. Ich gab ihr auf, sich bis Morgen daran zu erinnern. Nun sagte sie recht mürrisch, ich solle nicht immer fragen, woher das und jenes komme, sondern sie erzählen lassen, was sie mir zu sagen habe. Ich gehe darauf ein, und sie setzt ohne Einleitung fort: Wie sie ihn herausgetragen haben, habe ich nicht glauben können, dass er todt ist. (Sie spricht also wieder von ihrem Manne, und ich erkenne jetzt als Grund ihrer Verstimmung, dass sie unter dem zurückgehaltenen Rest dieser Geschichte gelitten hat). Und dann habe sie durch 3 Jahre das Kind gehasst, weil sie sich immer gesagt, sie hätte den Mann gesund pflegen können, wenn sie nicht des Kindes wegen zu Bette gelegen wäre. Und dann habe sie nach dem Tode ihres Mannes nur Kränkungen und Aufregungen gehabt. Seine Verwandten, die stets gegen die Heirat waren und sich dann darüber ärgerten, dass sie so glücklich lebten, hätten ausgesprengt, dass sie selbst ihn vergiftet, so dass sie eine Untersuchung verlangen wollte. Durch einen abscheulichen Winkelschreiber hätten die Verwandten ihr alle möglichen Processe angehängt. Der Schurke schickte Agenten herum, die gegen sie hetzten, liess schmähende Artikel gegen sie in die Localzeitungen aufnehmen und schickte ihr dann die Ausschnitte zu. Von daher stamme ihre Leutescheu und ihr Hass gegen alle fremden Menschen. Nach den [52] beschwichtigenden Worten, die ich an ihre Erzählung knüpfe, erklärt sie sich für erleichtert.

13. Mai. Sie hat wieder wenig geschlafen vor Magenschmerzen, gestern kein Nachtmahl genommen, klagt auch über Schmerzen im rechten Arm. Ihre Stimmung ist aber gut, sie ist heiter und behandelt mich seit gestern mit besonderer Auszeichnung. Sie fragt mich nach meinem Urtheil über die verschiedensten Dinge, die ihr wichtig erscheinen, und geräth in eine ganz unverhältnissmässige Erregung, wenn ich z. B. nach den Tüchern, die bei der Massage benöthigt werden, suchen muss und dgl. Schnalzen und Gesichtstick treten häufig auf.

Hypnose: Gestern abends ist ihr plötzlich der Grund eingefallen, weshalb kleine Thiere, die sie sehe, so in’s Riesige wachsen. Das sei ihr das erste Mal in einer Theatervorstellung in D.. geschehen, wo eine riesig grosse Eidechse auf der Bühne war. Diese Erinnerung habe sie gestern auch so sehr gepeinigt.[17]

Dass das Schnalzen wiedergekehrt, rühre daher, dass sie gestern Unterleibsschmerzen gehabt und sich bemüht dieselben nicht durch Seufzer zu verrathen. Von dem eigentlichen Anlass des Schnalzens (vgl. p. 46) weiss sie nichts. Sie erinnert sich auch, dass ich ihr die Aufgabe gestellt herauszufinden, woher die Magenschmerzen stammen. Sie wisse es aber nicht, bittet mich, ihr zu helfen. Ich meine, ob sie sich nicht einmal nach grossen Aufregungen zum Essen genöthigt. Das trifft zu. Nach dem Tode ihres Mannes entbehrte sie eine lange Zeit hindurch jeder Esslust, ass nur aus Pflichtgefühl, und damals begannen wirklich die Magenschmerzen. – Ich nehme jetzt die Magenschmerzen durch einige Striche über das Epigastrium weg. Sie beginnt dann spontan von dem zu sprechen, was sie am meisten afficirt hat: „Ich habe gesagt, dass ich die Kleine nicht geliebt habe. Ich muss aber hinzufügen, dass man es an meinem Benehmen nicht merken konnte. Ich habe alles gethan, was nothwendig war. Ich mache mir jetzt noch Vorwürfe, dass ich die Aeltere lieber habe.“

[53] 14. Mai. Sie ist wohl und heiter, hat bis halb 8 Uhr früh geschlafen, klagt nur über etwas Schmerzen im Radialisgebiet der Hand, Kopf- und Gesichtsschmerzen. Das Aussprechen vor der Hypnose gewinnt immer mehr an Bedeutung. Sie hat heute fast nichts Grässliches vorzubringen. Sie beklagt sich über Schmerz und Gefühllosigkeit im rechten Bein, erzählt, dass sie 1871 eine Unterleibsentzündung durchgemacht, dann, kaum erholt, ihren kranken Bruder gepflegt und dabei die Schmerzen bekommen, die selbst zeitweise eine Lähmung des rechten Fusses herbeiführten.

In der Hypnose frage ich, ob es ihr jetzt schon möglich sein werde, sich unter Menschen zu bewegen, oder ob die Furcht noch überwiege. Sie meint, es sei ihr noch unangenehm, wenn jemand hinter ihr oder knapp neben ihr steht, erzählt in diesem Zusammenhange noch Fälle von unangenehmen Ueberraschungen durch plötzlich auftauchende Personen. So seien einmal, als sie auf Rügen einen Spaziergang mit ihren Töchtern gemacht, zwei verdächtig aussehende Individuen hinter einem Gebüsche hervorgekommen und hätten sie insultirt. In Abbazia sei auf einem abendlichen Spaziergange plötzlich ein Bettler hinter einem Stein hervorgetreten, der dann vor ihr niedergekniet. Es soll ein harmloser Wahnsinniger gewesen sein; ferner erzählt sie von einem nächtlichen Einbruch in ihrem isolirt stehenden Schloss, der sie sehr erschreckt hat.

Es ist aber leicht zu merken, dass diese Furcht vor Menschen wesentlich auf die Verfolgungen zurückgeht, denen sie nach dem Tode ihres Mannes ausgesetzt war.[18]

Abends. Anscheinend sehr heiter, empfängt sie mich doch mit dem Ausrufe: „Ich sterbe vor Angst, oh, ich kann es Ihnen fast nicht sagen, ich hasse mich.“ Ich erfahre endlich, dass Dr. Breuer sie besucht hat, und dass sie bei seinem Erscheinen zusammengefahren ist. Als er es bemerkte, versicherte sie ihm: Nur diesesmal, und es that ihr in meinem Interesse so sehr leid, dass sie diesen Rest von früherer Schreckhaftigkeit noch verrathen musste! Ich hatte überhaupt in diesen Tagen Gelegenheit gehabt, zu bemerken, wie herbe sie gegen sich ist, wie leicht bereit, sich aus den kleinsten Nachlässigkeiten, – wenn die Tücher für die Massage nicht am selben Platze liegen, wenn die Zeitung nicht in die Augen springend vorbereitet ist, die ich lesen [54] soll, während sie schläft. – einen schweren Vorwurf zu machen. Nachdem die erste, oberflächlichste Schichte von quälenden Reminiscenzen abgetragen ist, kommt ihre sittlich überempfindliche, mit der Neigung zur Selbstverkleinerung behaftete Persönlichkeit zum Vorscheine, der ich im Wachen wie in der Hypnose vorsage, was eine Umschreibung des alten Satzes „minima non curat praetor“ ist, dass es zwischen dem Guten und dem Schlechten eine ganze grosse Gruppe von indifferenten, kleinen Dingen gibt, aus denen sich niemand einen Vorwurf machen soll. Ich glaube, sie nimmt diese Lehren nicht viel besser auf als irgend ein asketischer Mönch des Mittelalters, der den Finger Gottes und die Versuchung des Teufels in jedem kleinsten Erlebniss sieht, das ihn betrifft, und der nicht im Stande ist, sich die Welt nur für eine kleine Weile und in irgend einer kleinen Ecke ohne Beziehung auf seine Person vorzustellen.

In der Hypnose bringt sie einzelne Nachträge an schreckhaften Bildern (so in Abbazia blutige Köpfe auf jeder Woge.) Ich lasse mir von ihr die Lehren wiederholen, die ich ihr im Wachen ertheilt habe.

15. Mai. Sie hat bis ½9 Uhr geschlafen, ist aber gegen morgens unruhig geworden und empfängt mich mit leichtem Tick, Schnalzen und etwas Sprachhemmung. „Ich sterbe vor Angst.“ Erzählt auf Befragen, dass die Pension, in der die Kinder hier untergebracht sind, sich im 4. Stock befinde und mittelst eines Lifts zu erreichen sei. Sie habe nun gestern verlangt, dass die Kinder diesen Lift auch zum Herunterkommen benützen, und mache sich jetzt Vorwürfe darüber, da der Lift nicht ganz verlässlich sei. Der Pensionsbesitzer habe es selbst gesagt. Ob ich die Geschichte der Gräfin Sch. . . kenne, die in Rom bei einem derartigen Unfalle todt geblieben sei? Ich kenne nun die Pension und weiss, dass der Aufzug Privateigenthum des Pensionsbesitzers ist; es scheint mir nicht leicht möglich, dass der Mann, der sich dieses Aufzuges in seiner Annonce rühmt, selbst vor dessen Benützung gewarnt haben solle. Ich meine, da liegt eine von der Angst eingegebene Erinnerungstäuschung vor, theile ihr meine Ansicht mit und bringe sie ohne Mühe dazu, dass sie selbst über die Unwahrscheinlichkeit ihrer Befürchtung lacht. Eben darum kann ich nicht glauben, dass dies die Ursache ihrer Angst war, und nehme mir vor, die Frage an ihr hypnotisches Bewusstsein zu richten. Während der Massage, die ich nach mehrtägiger Unterbrechung heute wieder vornehme, erzählt sie einzelne, lose aneinder gereihte Geschichten, die aber wahr sein mögen, so von einer Kröte, die in einem Keller gefunden [55] wurde, von einer excentrischen Mutter, die ihr idiotisches Kind auf eigenthümliche Weise pflegte, von einer Frau, die wegen Melancholie in ein Irrenhaus gesperrt wurde, und lässt so erkennen, was für Reminiscenzen durch ihren Kopf ziehen, wenn sich ihrer eine unbehagliche Stimmung bemächtigt hat. Nachdem sie sich dieser Erzählungen entledigt hat, wird sie sehr heiter, berichtet von ihrem Leben auf ihrem Gut, von den Beziehungen, die sie zu hervorragenden Männern Deutsch-Russlands und Norddeutschlands unterhält, und es fällt mit wahrlich schwer, diese Fülle von Bethätigung mit der Vorstellung einer so arg nervösen Frau zu vereinen.

In der Hypnose frage ich also: warum sie heute morgens so unruhig war, und erhalte anstatt des Bedenkens über den Lift die Auskunft, sie habe gefürchtet, die Periode werde wiederkehren und sie wiederum an der Massage stören.[19]

[56] Ich lasse mir ferner die Geschichte ihrer Beinschmerzen erzählen. Der Beginn ist derselbe wie gestern, dann folgt eine lange Reihe von Wechselfällen peinlicher und aufreibender Erlebnisse, zu deren Zeit [57] sie diese Beinschmerzen hatte, und durch deren Einwirkung dieselben jedesmal sich verstärkten, selbst bis zu einer doppelseitigen Beinlähmung mit Gefühlsverlust. Aehnlich ist es mit den Armschmerzen, [58] die gleichfalls während einer Krankenpflege gleichzeitig mit den Genickkrämpfen begannen. Ueber die „Genickkrämpfe“ erfahre ich nur Folgendes. Sie haben eigenthümliche Zustände von Unruhe mit Verstimmung abgelöst, die früher da waren, und bestehen in einem „eisigen Packen“ im Genick, mit Steifwerden und schmerzhafter Kälte aller Extremitäten, Unfähigkeit zu sprechen und voller Prostration. Sie dauern 6–12 Stunden. Meine Versuche, diesen Symptomcomplex als Reminiscenz zu entlarven, schlagen fehl. Die dahin zielenden Fragen, ob sie der Bruder, den sie im Delirium pflegte, einmal am Genick gepackt, werden verneint; sie weiss nicht, woher diese Anfälle rühren.[20] [59] Abends. Sie ist sehr heiter, entwickelt überhaupt prächtigen Humor. Mit dem Lift sei es allerdings nicht so gewesen, wie sie mir gesagt hatte. Er sollte nur unter einem Vorwand nicht für die Fahrt abwärts benützt werden. Eine Menge Fragen, an denen nichts Krankhaftes ist. Sie hat peinlich starke Schmerzen im Gesicht, in der Hand längs der Daumenseite und im Bein gehabt. Sie fühle Steifigkeit und Gesichtsschmerzen, wenn sie längere Zeit ruhig gesessen sei oder auf einen Punkt gestarrt habe. Das Heben eines schwereren Gegenstandes verursache ihr Armschmerzen. – Die Untersuchung des rechten Beines ergibt ziemlich gute Sensibilität am Oberschenkel, hochgradige Anästhesie am Unterschenkel und Fuss, mindere in der Backen- und Lendengegend.

In der Hypnose gibt sie an, sie habe noch gelegentliche Angstvorstellungen, wie, es könnte ihren Kindern etwas geschehen, sie könnten [60] krank werden oder nicht am Leben bleiben, ihr Bruder, der jetzt auf der Hochzeitsreise sei, könnte einen Unfall erleiden, seine Frau sterben, weil alle Geschwister so kurz verheirathet waren. Andere Befürchtungen sind ihr nicht zu entlocken. Ich verweise ihr das Bedürfnis, sich zu ängstigen, wo kein Grund vorliegt. Sie verspricht es zu unterlassen, „weil Sie es verlangen“. Weitere Suggestionen für die Schmerzen, das Bein u. s. w.

16. Mai. Sie hat gut geschlafen, klagt noch über Schmerzen im Gesicht, Arm, Beinen, ist sehr heiter. Die Hypnose fällt ganz unergiebig aus. Faradische Pinselung des anästhetischen Beines.

Abends. Sie erschrickt gleich bei meinem Eintreten. – „Gut, dass Sie kommen. Ich bin so erschrocken.“ – Dabei alle Zeichen des Grausens, Stottern, Tick. Ich lasse mir zuerst im Wachen erzählen, was es gegeben hat, wobei sie das Entsetzen mit gekrümmten Fingern und vorgestreckten Händen vortrefflich darstellt. – Im Garten ist eine ungeheuere Maus plötzlich über ihre Hand gehuscht und dann plötzlich verschwunden, es huschte überhaupt beständig hin und her (Illusion spielender Schatten?). Auf den Bäumen sassen lauter Mäuse. – Hören Sie nicht die Pferde im Circus stampfen? – Daneben stöhnt ein Herr, ich glaube, er hat Schmerzen nach der Operation. – Bin ich denn auf Rügen, habe ich dort so einen Ofen gehabt? – Sie ist auch verworren unter der Fülle von Gedanken, die sich in ihr kreuzen, und in dem Bemühen, die Gegenwart herauszufinden. Auf Fragen nach gegenwärtigen Dingen, z. B. ob die Töchter heute da waren, weiss sie nicht zu antworten.

Ich versuche die Entwirrung dieses Zustandes in der Hypnose.

Hypnose. Wovor haben Sie sich denn geängstigt? – Sie wiederholt die Mäusegeschichte mit allen Zeichen des Entsetzens; auch sei, als sie über die Treppe ging, ein scheussliches Thier da gelegen und gleich verschwunden. Ich erkläre das für Hallucinationen, verweise ihr die Furcht vor Mäusen, die komme nur bei Trinkern vor (die sie sehr verabscheut). Ich erzähle ihr die Geschichte vom Bischof Hatto, die sie auch kennt und mit ärgstem Grausen anhört. – „Wie kommen Sie denn auf den Circus?“ – Sie hört deutlich aus der Nähe, wie die Pferde in den Ställen stampfen und sich dabei im Halfter verwickeln, wodurch sie sich beschädigen können. Der Johann pflege dann immer hinauszugehen und sie loszubinden. – Ich bestreite ihr die Nähe des Stalles und das Stöhnen des Nachbars. Ob sie wisse, wo sie ist? – Sie weiss es, aber sie glaubte früher, auf Rügen zu sein. – Wie [61] sie zu dieser Erinnerung kommt? – Sie sprachen im Garten davon, dass es an einer Stelle so heiss sei, und da sei ihr die schattenlose Terrasse auf Rügen eingefallen. – Was für traurige Erinnerungen sie denn an den Aufenthalt in Rügen habe? – Sie bringt die Reihe derselben vor. Sie habe dort die furchtbarsten Arm- und Beinschmerzen bekommen, sei mehrmals bei Ausflügen in den Nebel gerathen, so dass sie den Weg verfehlt, zweimal auf Spaziergängen von einem Stier verfolgt worden u. s. w. – Wieso sie heute zu diesem Anfall gekommen? – Ja, wieso? Sie habe sehr viele Briefe geschrieben, drei Stunden lang und dabei einen eingenommenen Kopf bekommen. – Ich kann also annehmen, dass die Ermüdung diesen Anfall von Delirium herbeigeführt hat, dessen Inhalt durch solche Anklänge wie die schattenlose Stelle im Garten etc. bestimmt wurde. – Ich wiederhole alle die Lehren, die ich ihr zu geben pflege, und verlasse sie eingeschläfert.

17. Mai. Sie hat sehr gut geschlafen. Im Kleienbad, das sie heute nahm, hat sie mehrmals aufgeschrien, weil sie die Kleie für kleine Würmer hielt. Ich weiss dies von der Wärterin; sie mag es nicht gerne erzählen, ist fast ausgelassen heiter, unterbricht sich aber häufig mit Schreien „Huh“, Grimassen, die das Entsetzen ausdrücken, zeigt auch mehr Stottern als je in den letzten Tagen. Sie erzählt, dass sie in der Nacht geträumt, sie gehe auf lauter Blutegeln. In der Nacht vorher hatte sie grässliche Träume, musste so viele Todte schmücken und in den Sarg legen, wollte aber nie den Deckel darauf geben. (Offenbar eine Reminiscenz an ihren Mann, s. o.) Erzählt ferner, dass ihr im Leben eine Menge von Abenteuern mit Thieren passirt seien, das grässlichste mit einer Fledermaus, die sich in ihrem Toiletteschrank eingefangen, wobei sie damals unangekleidet aus dem Zimmer lief. Ihr Bruder schenkte ihr darauf, um sie von dieser Angst zu curiren, eine schöne Broche in Gestalt einer Fledermaus; sie konnte dieselbe aber nie tragen.

In der Hypnose: Ihre Angst vor Würmern rühre daher, dass sie einmal ein schönes Nadelkissen geschenkt bekommen, aus welchem am nächsten Morgen, als sie es gebrauchen wollte, lauter kleine Würmer hervorkrochen, weil die zur Füllung verwendete Kleie nicht ganz trocken war. (Hallucination? Vielleicht thatsächlich.) Ich frage nach weiteren Thiergeschichten. Als sie einmal mit ihrem Manne in einem Petersburger Park spazieren ging, sei der ganze Weg bis zum Teich mit Kröten besetzt gewesen, so dass sie umkehren mussten. Sie habe Zeiten gehabt, in denen sie niemand die Hand reichen konnte aus [62] Furcht, diese verwandle sich in ein scheussliches Thier, wie es so oft der Fall gewesen war. Ich versuche sie von der Thierangst zu befreien, indem ich die Thiere einzeln durchgehe und frage, ob sie sich vor ihnen fürchte. Sie antwortet bei den einen „Nein“, bei den anderen: „Ich darf mich nicht fürchten“.[21] Ich frage, warum sie heute und gestern so gezuckt und gestottert. Das thue sie immer, wenn sie so schreckhaft sei.[22] – Warum sie aber gestern so schreckhaft gewesen? – Im Garten sei ihr allerlei eingefallen, was sie drückte. Vor allem, wie sie verhindern könne, dass sich wieder etwas bei ihr anhäufe, nachdem sie aus der Behandlung entlassen sei. – Ich wiederhole ihr die drei Trostgründe, die ich ihr schon im Wachen gegeben: 1. Sie sei überhaupt gesünder und widerstandsfähiger geworden. 2. Sie werde sich gewöhnen, sich gegen irgend eine ihr nahe stehende Person auszusprechen. 3. Sie werde eine ganze Menge von Dingen, die sie bisher gedrückt, fortan zu den indifferenten zählen. – Es habe sie ferner gedrückt, dass sie mir nicht für mein spätes Kommen gedankt, dass sie gefürchtet, ich werde wegen ihres letzten Rückfalles die Geduld mit ihr verlieren. Es habe sie sehr ergriffen und geängstigt, dass der Hausarzt im Garten einen Herrn gefragt habe, ob er schon Muth zur Operation habe. Die Frau sass dabei; sie selbst musste denken, wenn dies nun der letzte Abend des armen Mannes wäre. Mit dieser letzten Mittheilung scheint die Verstimmung gelöst zu sein![23]

[63] Abends ist sie sehr heiter und zufrieden. Die Hypnose liefert gar kein Ergebnis. Ich beschäftige mich mit der Behandlung der Muskelschmerzen und mit der Herstellung den Sensibilität am rechten Bein, was in der Hypnose sehr leicht gelingt; die hergestellte Empfindlichkeit ist nach dem Erwachen aber zum Theil wieder verloren gegangen. Ehe ich sie verlasse, äussert sie ihre Verwunderung darüber, dass sie so lange keinen Genickkrampf gehabt, der sonst vor jedem Gewitter aufzutreten pflegte.

18. Mai. Sie hat heute Nacht geschlafen, wie es seit Jahren nicht mehr vorgekommen, klagt aber seit dem Bad über Kälte im Genick, Zusammenziehen und Schmerzen im Gesicht, in den Händen und Füssen, ihre Züge sind gespannt, ihre Hände in Krampfstellungen. Die Hypnose weist keinerlei psychischen Inhalt dieses Zustandes von „Genickkrampf“ nach, den ich dann durch Massage im Wachen bessere.[24]


Ich hoffe, der vorstehende Auszug aus der Chronik der ersten drei Wochen wird hinreichen, ein anschauliches Bild von dem Zustand der Kranken, von der Art meiner therapeutischen Bemühung und von deren Erfolg zu geben. Ich gehe daran, die Krankengeschichte zu vervollständigen.

[64] Das zuletzt beschriebene hysterische Delirium war auch die letzte erheblichere Störung im Befinden der Frau Emmy v. N. Da ich nicht selbständig nach Krankheitssymptomen und deren Begründung forschte, sondern zuwartete, bis sich etwas zeigte oder sie mir einen beängstigenden Gedanken eingestand, wurden die Hypnosen bald unergiebig und wurden von mir meistens dazu verwendet, ihr Lehren zu ertheilen, die in ihren Gedanken stets gegenwärtig bleiben und sie davor schützen sollten, zu Hause neuerdings in ähnliche Zustände zu verfallen. Ich stand damals völlig unter dem Banne des Bernheim’schen Buches über die Suggestion und erwartete mehr von solcher lehrhafter Beeinflussung, als ich heute erwarten würde. Das Befinden meiner Patientin hob sich in kurzer Zeit so sehr, dass sie versicherte, sich seit dem Tode ihres Mannes nicht ähnlich wohl gefühlt zu haben. Ich entliess sie nach im Ganzen 7wöchentlicher Behandlung in ihre Heimath an der Ostsee.

Nicht ich, sondern Dr. Breuer erhielt nach etwa 7 Monaten Nachricht von ihr. Ihr Wohlbefinden hatte mehrere Monate angehalten und war dann einer neuerlichen psychischen Erschütterung erlegen. Ihre älteste Tochter, die bereits während des ersten Aufenthaltes in Wien es der Mutter an Genickkrämpfen und leichteren hysterischen Zuständen gleich gethan hatte, die vor Allem an Schmerzen beim Gehen in Folge einer Retroflexio uteri litt, war auf meinen Rath von Dr. N. . ., einem unserer angesehensten Gynaekologen, behandelt worden, der ihr den Uterus durch Massage aufrichtete, so dass sie mehrere Monate frei von Beschwerden blieb. Als sich diese zu Hause wieder einstellten, wandte sich die Mutter an den Gynaekologen der nächsten Universitätsstadt, welcher dem Mädchen eine combinirte locale und allgemeine Therapie angedeihen liess, die aber zu einer schweren nervösen Erkrankung des Kindes führte. Wahrscheinlich zeigte sich hierin bereits die pathologische Veranlagung des damals 17jährigen Mädchens, die ein Jahr später in einer Charakterveränderung manifest wurde. Die Mutter, die das Kind mit ihrem gewohnten Gemische von Ergebung und Misstrauen den Aerzten überlassen hatte, machte sich nach dem unglücklichen Ausgang dieser Cur die allerheftigsten Vorwürfe, gelangte auf einem Gedankenwege, dem ich nicht nachgespürt habe, zum Schluss, dass wir beide, Dr. N. . . und ich, Schuld an der Erkrankung des Kindes trügen, weil wir ihr das schwere Leiden der Kleinen als leicht dargestellt, hob gewissermaassen durch einen Willensact die Wirkung meiner Behandlung auf und verfiel alsbald wieder in dieselben [65] Zustände, von denen ich sie befreit hatte. Ein hervorragender Arzt in ihrer Nähe, an den sie sich wandte, und Dr. Breuer, der brieflich mit ihr verkehrte, vermochten es zwar, sie zur Einsicht von der Unschuld der beiden Angeklagten zu bringen, allein die zu dieser Zeit gefasste Abneigung gegen mich blieb ihr als hysterischer Rest auch nach dieser Aufklärung übrig, und sie erklärte, es sei ihr unmöglich, sich wieder in meine Behandlung zu begeben. Nach dem Rath jener ärztlichen Autorität suchte sie Hilfe in einem Sanatorium Norddeutschlands, und ich theilte auf Breuer’s Wunsch dem leitenden Arzte der Anstalt mit, welche Modification der hypnotischen Therapie sich bei ihr wirksam erwiesen hatte.

Dieser Versuch einer Uebertragung misslang ganz gründlich. Sie scheint sich von Anfang an mit dem Arzt nicht verstanden zu haben, erschöpfte sich im Widerstand gegen alles, was man mit ihr vornahm, kam herunter, verlor Schlaf und Esslust und erholte sich erst, nachdem eine Freundin, die sie in der Anstalt besuchte, sie eigentlich heimlich entführt und in ihrem Hause gepflegt hatte. Kurze Zeit darauf, genau 1 Jahr nach ihrem ersten Zusammentreffen mit mir, war sie wieder in Wien und gab sich wieder in meine Hände.

Ich fand sie weit besser, als ich sie mir nach den brieflichen Berichten vorgestellt hatte. Sie war beweglich, angstfrei; es hatte doch vieles gehalten, was ich im Vorjahre aufgerichtet hatte. Ihre Hauptklage war die über häufige Verworrenheit, „Sturm im Kopf“, wie sie es nannte; ausserdem war sie schlaflos, musste oft durch Stunden weinen und wurde zu einer bestimmten Zeit des Tages (5 Uhr) traurig. Es war dies die Zeit, um welche sie im Winter die im Sanatorium befindliche Tochter besuchen durfte. Sie stotterte und schnalzte sehr viel, rieb häufig wie wüthend die Hände an einander, und als ich sie fragte, ob sie viel Thiere sehe, antwortete sie nur: „O, seien Sie still.“

Beim ersten Versuch, sie in Hypnose zu versetzen, ballte sie die Fäuste, schrie: „Ich will keine Antipyrininjection, ich will lieber meine Schmerzen behalten. Ich mag den Dr. R... nicht, er ist mir antipathisch.“ Ich erkannte, dass sie in der Reminiscenz einer Hypnose in der Anstalt befangen sei, und sie beruhigte sich, als ich sie in die gegenwärtige Situation zurückbrachte.

Gleich zu Beginn der Behandlung machte ich eine lehrreiche Erfahrung. Ich hatte gefragt, seit wann das Stottern wiedergekommen sei, und sie hatte (in der Hypnose) zögernd geantwortet: seit dem Schreck, [66] den sie im Winter in D. . . gehabt. Ein Kellner des Gasthofs, in dem sie wohnte, hatte sich in ihrem Zimmer versteckt; sie habe das Ding in der Dunkelheit für einen Paletot gehalten, hingegriffen, und da sei der Mann plötzlich „in die Höhe geschossen“. Ich nehme ihr dieses Erinnerungsbild ab, und wirklich stottert sie von da an in der Hypnose wie im Wachen kaum merklich. Ich weiss nicht mehr, was mich bewog, hier die Probe auf den Erfolg zu versuchen. Als ich am Abend wiederkam, fragte ich sie anscheinend ganz harmlos, wie ich es denn machen solle, um bei meinem Weggehen, wenn sie im Schlafe liege, die Thüre so zu verschliessen, dass sich niemand hereinschleichen könne. Zu meinem Erstaunen erschrak sie heftig, begann mit Zähneknirschen und Händereiben, deutete an, sie habe einen heftigen Schreck in dieser Art in D. . . gehabt, war aber nicht zu bewegen, die Geschichte zu erzählen. Ich merkte, dass sie dieselbe Geschichte meine, die sie vormittags in der Hypnose erzählt, und die ich doch verwischt zu haben meinte. In der nächsten Hypnose erzählte sie nun ausführlicher und wahrheitsgetreuer. Sie war in ihrer Erregung am Abend auf dem Gange hin und her gegangen, fand die Thür zum Zimmer ihrer Kammerfrau offen und wollte eintreten, um sich dort niederzusetzen. Die Kammerfrau vertrat ihr den Weg, sie liess sich aber nicht abhalten, trat dennoch ein und bemerkte dann jenes dunkle Ding an der Wand, das sich als ein Mann erwies. Offenbar war es das erotische Moment dieses kleinen Abenteuers gewesen, was sie zu einer ungetreuen Darstellung veranlasst hatte. Ich hatte aber erfahren, dass eine unvollständige Erzählung in der Hypnose keinen Heileffect hat, gewöhnte mich, eine Erzählung für unvollständig zu halten, wenn sie keinen Nutzen brachte, und lernte es allmählich den Kranken an der Miene abzusehen, ob sie mir nicht ein wesentliches Stück der Beichte verschwiegen hätten.

Die Arbeit, die ich diesmal mit ihr vorzunehmen hatte, bestand in der hypnotischen Erledigung der unangenehmen Eindrücke, die sie während der Cur ihrer Tochter und während des eigenen Aufenthaltes in jener Anstalt in sich aufgenommen hatte. Sie war voll unterdrückter Wuth gegen den Arzt, der sie genöthigt hatte, in der Hypnose K..r..ö..t..e zu buchstabiren, und nahm mir das Versprechen ab, dieses Wort ihr niemals zuzumuthen. Ich erlaubte mir hier einen suggestiven Scherz, den einzigen, übrigens ziemlich harmlosen Missbrauch der Hypnose, dessen ich mich bei dieser Patientin anzuklagen habe. Ich versicherte ihr, der Aufenthalt in ***thal würde ihr so sehr in die Ferne entrückt sein, dass sie sich nicht einmal auf den Namen [67] besinnen und jedesmal, wenn sie ihn aussprechen wollte, sich zwischen ... berg, ... thal, ... wald u. dgl. irren werde. Es traf so zu, und bald war die Unsicherheit bei diesem Namen die einzige Sprachhemmung, die an ihr zu beobachten war, bis ich sie auf eine Bemerkung von Dr. Breuer von diesem Zwang zur Paramnesie befreite.

Länger als mit den Resten dieser Erlebnisse hatte ich mit den Zuständen zu kämpfen, die sie „Sturm im Kopfe“ benannte. Als ich sie zum ersten Male in solch einem Zustand sah, lag sie mit verzerrten Zügen auf dem Divan in unaufhörlicher Unruhe des ganzen Körpers, die Hände immer wieder gegen die Stirne gepresst, und rief dabei wie sehnsüchtig und rathlos den Namen „Emmy“, der ihr eigener wie der ihrer älteren Tochter war. In der Hypnose gab sie die Auskünfte, der Zustand sei die Wiederholung so vieler Anfälle von Verzweiflung, die sie während der Cur ihrer Tochter zu ergreifen pflegten, nachdem sie Stunden lange darüber nachgedacht, wie man den schlechten Erfolg der Behandlung corrigiren könne, ohne einen Ausweg zu finden. Als sie dann fühlte, dass sich ihre Gedanken verwirrten, gewöhnte sie sich daran, den Namen der Tochter laut zu rufen, um sich an ihm wieder zur Klarheit heraus zu arbeiten. Denn zu jener Zeit, als der Zustand der Tochter ihr neue Pflichten auferlegte und sie fühlte, dass die Nervosität wieder Macht über sie gewinne, habe sie bei sich festgesetzt, dass alles, was dieses Kind beträfe, der Verwirrung entzogen bleiben müsse, sollte auch alles andere in ihrem Kopfe drunter und drüber gehen.

Nach einigen Wochen waren auch diese Reminiscenzen überwunden, und Frau Emmy verblieb in vollkommenem Wohlbefinden noch einige Zeit in meiner Beobachtung. Grade gegen Ende ihres Aufenthaltes fiel etwas vor, was ich ausführlich erzählen will, weil diese Episode das hellste Licht auf den Charakter der Kranken und auf die Entstehungsweise ihrer Zustände wirft.

Ich besuchte sie einmal zur Zeit ihres Mittagsessens und überraschte sie dabei, wie sie etwas in Papier gehüllt in den Garten warf, wo es die Kinder des Hausdieners auffiengen. Auf mein Befragen bekannte sie, es sei ihre (trockene) Mehlspeise, die alle Tage denselben Weg zu gehen pflege. Diess gab mir Anlass, mich nach den Resten der anderen Gänge umzusehen, und ich fand auf den Tellern mehr übriggelassen, als sie verzehrt haben konnte. Zur Rede gestellt, warum sie so wenig esse, antwortete sie, sie sei nicht gewöhnt, mehr zu essen, auch würde es ihr schaden; sie habe dieselbe Natur wie [68] ihr seliger Vater, der gleichfalls ein schwacher Esser gewesen sei. Als ich mich erkundigte, was sie trinke, kam die Antwort, sie vertrage überhaupt nur dicke Flüssigkeiten, Milch, Kaffee, Cacao und dgl.; so oft sie Quellwasser oder Mineralwasser trinke, verderbe sie sich den Magen. Diess trug nun unverkennbar den Stempel einer nervösen Election. Ich nahm eine Harnprobe mit und fand den Harn sehr concentrirt und mit harnsauren Salzen überladen.

Ich erachtete es demnach für zweckmässig, ihr reichlicheres Trinken anzurathen, und nahm mir vor, auch ihre Nahrungsaufnahme zu steigern. Sie war zwar keineswegs auffällig mager, aber etwas Ueberernährung schien mir immerhin anstrebenswerth. Als ich ihr bei meinem nächsten Besuch ein alkalisches Wasser empfahl und die gewohnte Verwendung der Mehlspeise untersagte, gerieth sie in nicht geringe Aufregung. „Ich werde es thun, weil Sie es verlangen, aber ich sage Ihnen vorher, es wird schlecht ausgehen, weil es meiner Natur widerstrebt, und mein Vater war ebenso.“ Auf die in der Hypnose gestellte Frage, warum sie nicht mehr essen und kein Wasser trinken könne, kam ziemlich mürrisch die Antwort: „Ich weiss nicht“. Am nächsten Tage bestätigte mir die Wärterin, dass Frau Emmy ihre ganze Portion bewältigt und ein Glas des alkalischen Wassers getrunken habe. Sie selbst fand ich aber liegend, tief verstimmt und in sehr ungnädiger Laune. Sie klagte über sehr heftige Magenschmerzen: „Ich habe es Ihnen ja gesagt. Jetzt ist der ganze Erfolg wieder weg, um den wir uns so lange gequält haben. Ich habe mir den Magen verdorben wie immer, wenn ich mehr esse oder Wasser trinke, und muss mich wieder 5 bis 8 Tage ganz aushungern, bis ich etwas vertrage.“ Ich versicherte ihr, sie werde sich nicht aushungern müssen, es sei ganz unmöglich, dass man auf diese Weise sich den Magen verderbe; ihre Schmerzen rührten nur von der Angst her, mit der sie gegessen und getrunken. Offenbar hatte ich ihr mit dieser Aufklärung nicht den geringsten Eindruck gemacht, denn als ich sie bald darauf einschläfern wollte, misslang die Hypnose zum ersten Male, und an dem wüthenden Blicke, den sie mir zuschleuderte, erkannte ich, dass sie in voller Auflehnung begriffen, und dass die Situation sehr ernst sei. Ich verzichtete auf die Hypnose, kündigte ihr an, dass ich ihr eine 24stündige Bedenkzeit lasse, um sich der Ansicht zu fügen, dass ihre Magenschmerzen nur von ihrer Furcht kämen; nach dieser Zeit werde ich sie fragen, ob sie noch meine, man könne sich den Magen auf 8 Tage hinaus durch [69] ein Glas Mineralwasser und eine bescheidene Mahlzeit verderben, und wenn sie bejahe, werde ich sie bitten abzureisen. Die kleine Scene stand in recht scharfem Contrast zu unseren, sonst sehr freundschaftlichen Beziehungen.

Ich traf sie 24 Stunden später demüthig und mürbe. Auf die Frage, wie sie über die Herkunft ihrer Magenschmerzen denke, antwortete sie, einer Verstellung unfähig: „Ich glaube, dass sie von meiner Angst kommen, aber nur, weil Sie es sagen.“ Jetzt versetzte ich sie in Hypnose und fragte neuerdings: „Warum können Sie nicht mehr essen?“

Die Antwort erfolgte prompt und bestand wieder in der Angabe einer chronologisch geordneten Reihe von Motiven aus der Erinnerung: „Wie ich ein Kind war, kam es oft vor, dass ich aus Unart bei Tisch mein Fleisch nicht essen wollte. Die Mutter war dann immer sehr streng, und ich musste bei schwerer Strafe 2 Stunden später das stehen gelassene Fleisch auf demselben Teller nachessen. Das Fleisch war ganz kalt geworden und das Fett so starr (Ekel),... und ich sehe die Gabel noch vor mir, ... die eine Zinke war etwas verbogen. Wenn ich mich jetzt zu Tisch setze, sehe ich immer die Teller vor mir mit dem kalten Fleisch und dem Fett; und wie ich viele Jahre später mit meinem Bruder zusammenlebte, der Officier war und der die garstige Krankheit hatte; – ich wusste, dass es ansteckend ist, und hatte so eine grässliche Angst, mich in dem Besteck zu irren und seine Gabel und sein Messer zu nehmen (Grausen), und ich habe doch mit ihm zusammengespeist, damit niemand merkt, dass er krank ist; und wie ich bald darauf meinen anderen Bruder gepflegt habe, der so lungenkrank war, da haben wir vor seinem Bett gegessen, und die Spuckschale stand immer auf dem Tisch und war offen (Grausen).... und er hatte die Gewohnheit, über die Teller weg in die Schale zu spucken, da habe ich mich immer so geekelt, und ich konnte es doch nicht zeigen, um ihn nicht zu beleidigen. Und diese Spuckschalen stehen immer noch auf dem Tisch, wenn ich esse, und da ekelt es mich noch immer.“ Ich räumte mit diesem Instrumentarium des Ekels natürlich gründlich auf und fragte dann, warum sie kein Wasser trinken könne. Als sie 17 Jahre alt war, verbrachte die Familie einige Monate in München, und fast alle Mitglieder zogen sich durch den Genuss des schlechten Trinkwassers Magenkatarrhe zu. Bei den Anderen wurde das Leiden durch ärztliche Anordnungen bald behoben, bei ihr hielt es an; auch das Mineralwasser, das ihr als Getränk empfohlen wurde, [70] besserte nichts. Sie dachte sich gleich, wie der Arzt ihr diese Verordnung gab: Das wird gewiss auch nichts nützen. Seither hatte sich diese Intoleranz gegen Quell- und Mineralwässer ungezählte Male wiederholt.

Die therapeutische Wirkung dieser hypnotischen Erforschung war eine sofortige und nachhaltige. Sie hungerte sich nicht 8 Tage lang aus, sondern ass und trank schon am nächsten Tag ohne alle Beschwerden. Zwei Monate später schrieb sie in einem Brief: „Ich esse sehr gut und habe um vieles zugenommen. Von dem Wasser habe ich schon 40 Flaschen getrunken. Glauben Sie, soll ich damit fortfahren?“

Ich sah Frau v. N. . im Frühjahr des nächsten Jahres auf ihrem Gute bei D . . wieder. Ihre ältere Tochter, deren Namen sie während der „Stürme im Kopf“ zu rufen pflegte, trat um diese Zeit in eine Phase abnormer Entwicklung ein, zeigte einen ungemessenen Ehrgeiz, der im Missverhältniss zu ihrer kärglichen Begabung stand, wurde unbotmässig und selbst gewaltthätig gegen die Mutter. Ich besass noch das Vertrauen der letzteren und wurde hinbeschieden, um mein Urtheil über den Zustand des jungen Mädchens abzugeben. Ich gewann einen ungünstigen Eindruck von der psychischen Veränderung, die mit dem Kinde vorgegangen war, und hatte bei der Stellung der Prognose noch die Thatsache in Anschlag zu bringen, dass sämmtliche Halbgeschwister der Kranken (Kinder des Herrn v. N . . aus erster Ehe) an Paranoia zu Grunde gegangen waren. In der Familie der Mutter fehlte es ja auch nicht an einem ausgiebigen Maass von neuropathischer Belastung, wenngleich von ihrem nächsten Verwandtenkreis kein Mitglied in endgiltige Psychose verfallen war. Frau v. N. ., der ich die Auskunft, die sie verlangt hatte, ohne Rückhalt ertheilte, benahm sich dabei ruhig und verständnissvoll. Sie war stark geworden, sah blühend aus, die ¾ Jahre seit Beendigung der letzten Behandlung waren in relativ hohem Wohlbefinden verflossen, das nur durch Genickkrämpfe und andere kleine Leiden gestört worden war. Den ganzen Umfang ihrer Pflichten, Leistungen und geistigen Interessen lernte ich erst während dieses mehrtägigen Aufenthaltes in ihrem Hause kennen. Ich traf auch einen Hausarzt an, der nicht allzuviel über die Dame zu klagen hatte; sie war also mit der „profession“ einigermaassen ausgesöhnt.

Die Frau war um so vieles gesünder und leistungsfähiger geworden, aber an den Grundzügen ihres Charakters hatte sich trotz [71] aller lehrhaften Suggestionen wenig verändert. Die Kategorie der „indifferenten Dinge“ schien sie mir nicht anerkannt zu haben, ihre Neigung zur Selbstquälerei war kaum geringer als zur Zeit der Behandlung. Die hysterische Disposition hatte auch während dieser guten Zeit nicht geruht, sie klagte z. B. über eine Unfähigkeit, längere Eisenbahnreisen zu machen, die sie sich in den letzten Monaten zugezogen hatte, und ein nothgedrungen eiliger Versuch, ihr dieses Hinderniss aufzulösen, ergab nur verschiedene kleine unangenehme Eindrücke, die sie sich auf den letzten Fahrten nach D . . und in die Umgebung geholt hatte. Sie schien sich in der Hypnose aber nicht gerne mitzutheilen, und ich kam schon damals auf die Vermuthung, dass sie im Begriffe sei, sich meinem Einfluss wiederum zu entziehen, und dass die geheime Absicht der Eisenbahnhemmung darin liege, eine neuerliche Reise nach Wien zu verhindern.

Während dieser Tage äusserte sie auch jene Klage über Lücken in ihrer Erinnerung „gerade in den wichtigsten Begebenheiten“, aus der ich schloss, dass meine Arbeit vor 2 Jahren eingreifend genug und dauernd gewirkt hatte. – Als sie mich eines Tages durch eine Allee führte, die vom Hause bis zu einer Bucht der See reichte, wagte ich die Frage, ob diese Allee oft mit Kröten besetzt sei. Zur Antwort traf mich ein strafender Blick, doch nicht begleitet von den Zeichen des Grausens, und dann folgte ergänzend die Aeusserung: „Aber wirkliche gibt es hier“. – Während der Hypnose, die ich zur Erledigung der Eisenbahnhemmung unternahm, schien sie selbst von den Antworten, die sie gab, unbefriedigt, und sie drückte die Furcht aus, sie würde jetzt wohl der Hypnose nicht mehr so gehorchen wie früher. Ich beschloss, sie vom Gegentheil zu überzeugen. Ich schrieb einige Worte auf einen Zettel nieder, den ich ihr übergab, und sagte: „Sie werden mir heute Mittag wieder ein Glas Rothwein einschänken wie gestern. Sowie ich das Glas zum Mund führe, werden Sie sagen: Ach bitte, schänken Sie mir auch ein Glas voll, und wenn ich dann nach der Flasche greife, werden Sie rufen: Nein, ich danke, ich will doch lieber nicht. Darauf werden Sie in Ihre Tasche greifen und den Zettel hervorziehen, auf dem dieselben Worte stehen“. Das war Vormittags; wenige Stunden später vollzog sich die kleine Scene genau so, wie ich sie angeordnet hatte, und in so natürlichem Hergang, dass sie keinem der zahlreichen Anwesenden auffiel. Sie schien sichtlich mit sich zu kämpfen, als sie von mir den Wein verlangte, – sie trank nämlich niemals Wein, – und nachdem sie mit offenbarer Erleichterung das Getränk abbestellt [72] hatte, griff sie in die Tasche, zog den Zettel hervor, auf dem ihre letztgesprochenen Worte zu lesen waren, schüttelte den Kopf und sah mich erstaunt an.

Seit diesem Besuche im Mai 1890 wurden meine Nachrichten über Frau v. N .. allmählich spärlicher. Ich erfuhr auf Umwegen, dass der unerquickliche Zustand ihrer Tochter, der die mannigfaltigsten peinlichen Erregungen für sie mit sich brachte, ihr Wohlbefinden endlich doch untergraben habe. Zuletzt erhielt ich von ihr (Sommer 1893) ein kurzes Schreiben, in dem sie mich bat zu gestatten, dass sie ein anderer Arzt hypnotisire, da sie wieder leidend sei und nicht nach Wien kommen könne. Ich verstand anfangs nicht, weshalb es dazu meiner Erlaubniss bedürfe, bis mir die Erinnerung auftauchte, dass ich sie im Jahre 1890 auf ihren eigenen Wunsch vor fremder Hypnose geschützt hatte, damit sie nicht wieder in Gefahr komme, wie damals in **berg (. . .thal, . . .wald) unter dem peinlichen Zwang eines ihr unsympathischen Arztes zu leiden. Ich verzichtete jetzt also schriftlich auf mein ausschliessliches Vorrecht.

Epikrise.

Es ist ja ohne vorherige eingehende Verständigung über den Werth und die Bedeutung der Namen nicht leicht zu entscheiden, ob ein Krankheitsfall zur Hysterie oder zu den anderen (nicht rein neurasthenischen) Neurosen gezählt werden soll, und auf dem Gebiete der gemeinhin vorkommenden gemischten Neurosen wartet man noch auf die ordnende Hand, welche die Grenzsteine setzen und die für die Charakteristik wesentlichen Merkmale hervorheben soll. Wenn man bis jetzt also Hysterie im engeren Sinne nach der Aehnlichkeit mit den bekannten typischen Fällen zu diagnosticiren gewohnt ist, so wird man dem Falle der Frau Emmy v. N . . die Bezeichnung einer Hysterie kaum streitig machen können. Die Leichtigkeit der Delirien und Hallucinationen bei im Uebrigen intacter geistiger Thätigkeit, die Veränderung der Persönlichkeit und des Gedächtnisses im künstlichen Somnambulismus, die Anästhesie an der schmerzhaften Extremität, gewisse Daten der Anamnese, die Ovarie und dgl. lassen keinen Zweifel über die hysterische Natur der Erkrankung oder wenigstens der Kranken zu. Dass die Frage überhaupt aufgeworfen werden kann, rührt von einem bestimmten Charakter dieses Falles her, welcher auch Anlass zu einer allgemein giltigen Bemerkung bieten darf. Wie aus unserer Eingangs abgedruckten „Vorläufigen Mittheilung“ ersichtlich, betrachten [73] wir die hysterischen Symptome als Effecte und Reste von Erregungen, welche das Nervensystem als Traumen beeinflusst nahen. Solche Reste bleiben nicht übrig, wenn die ursprüngliche Erregung durch Abreagiren oder Denkarbeit abgeführt worden ist. Man kann es hier nicht länger abweisen, Quantitäten (wenn auch nicht messbare) in Betracht zu ziehen, den Vorgang so aufzufassen, als ob eine an das Nervensystem herantretende Summe von Erregung in Dauersymptome umgesetzt würde, insoweit sie nicht ihrem Betrag entsprechend zur Action nach aussen verwendet worden ist. Wir sind nun gewohnt bei der Hysterie zu finden, dass ein erheblicher Theil der „Erregungssumme“ des Traumas sich in rein körperliche Symptome umwandelt. Es ist dies ja jener Zug der Hysterie, der durch so lange Zeit ihrer Auffassung als psychische Affection im Wege gestanden ist.

Wenn wir der Kürze halber die Bezeichnung „Conversion“ für die Umsetzung psychischer Erregung in körperliche Dauersymptome wählen, welche die Hysterie auszeichnet, so können wir sagen, der Fall der Frau Emmy v. N.. zeigt einen geringen Betrag von Conversion, die ursprünglich psychische Erregung verbleibt auch zumeist auf psychischem Gebiet, und es ist leicht einzusehen, dass er dadurch jenen anderen nicht hysterischen Neurosen ähnlich wird. Es gibt Fälle von Hysterie, in denen die Conversion den gesammten Reizzuwachs betrifft, so dass die körperlichen Symptome der Hysterie in ein scheinbar völlig normales Bewusstsein hereinragen; gewöhnlicher aber ist eine unvollständige Umsetzung, so dass wenigstens ein Theil des das Trauma begleitenden Affectes als Componente der Stimmung im Bewusstsein verbleibt.

Die psychischen Symptome unseres Falles von wenig convertirter Hysterie lassen sich gruppiren als Stimmungsveränderung (Angst, melancholische Depression), Phobien und Abulien (Willenshemmungen). Die beiden letzteren Arten von psychischer Störung, die von der Schule französischer Psychiater als Stigmata der nervösen Degeneration aufgefasst werden, erweisen sich aber in unserem Falle als ausreichend determinirt durch traumatische Erlebnisse; es sind zumeist traumatische Phobien und Abulien, wie ich im Einzelnen ausführen werde.

Von den Phobien entsprechen einzelne allerdings den primären Phobien des Menschen, insbesondere des Neuropathen, so vor allem die Thierfurcht (Schlangen, Kröten und ausserdem all das Ungeziefer, als dessen Herr sich Mephistopheles rühmt), die Gewitterfurcht u. a. Doch sind auch diese Phobien durch traumatische Erlebnisse befestigt [74] worden, so die Furcht vor Kröten durch den Eindruck in früher Jugend, als ihr ein Bruder eine todte Kröte nachwarf, worauf sie den Anfall hysterischer Zuckungen bekam; die Gewitterfurcht durch jenen Schreck, der zur Entstehung des Schnalzens Anlass gab; die Furcht vor Nebel durch jenen Spaziergang auf Rügen; immerhin spielt in dieser Gruppe die primäre, sozusagen instinctive Furcht, als psychisches Stigma genommen, die Hauptrolle.

Die anderen und specielleren Phobien sind auch durch besondere Erlebnisse gerechtfertigt. Die Furcht vor einem unerwarteten, plötzlichen Schreckniss ist das Ergebniss jenes schrecklichsten Eindrucks in ihrem Leben, als sie ihren Mann mitten aus bester Gesundheit an einem Herzschlag verscheiden sah. Die Furcht vor fremden Menschen, die Menschenfurcht überhaupt, erweist sich als Rest aus jener Zeit, in der sie den Verfolgungen ihrer Familie ausgesetzt und geneigt war, in jedem Fremden einen Agenten der Verwandtschaft zu sehen, oder in der ihr der Gedanke nahe lag, die Fremden wüssten um die Dinge, die mündlich und schriftlich über sie verbreitet wurden. Die Angst vor dem Irrenhause und dessen Einwohnern geht auf eine ganze Reihe von traurigen Erlebnissen in ihrer Familie und auf Schilderungen zurück, die dem horchenden Kinde eine dumme Dienstmagd machte, ausserdem stützt sich diese Phobie einerseits auf das primäre, instinctive Grauen des Gesunden vor dem Wahnsinn, andererseits auf die wie bei jedem Nervösen so auch bei ihr vorhandene Sorge, selbst dem Wahnsinn zu verfallen. Eine so specialisirte Angst wie die, dass jemand hinter ihr stünde, wird durch mehrere schreckhafte Eindrücke aus ihrer Jugend und aus späterer Zeit motivirt. Seit einem ihr besonders peinlichen Erlebniss im Hôtel, peinlich, weil es mit Erotik verknüpft ist, wird die Angst vor dem Einschleichen einer fremden Person besonders hervorgehoben; endlich eine den Neuropathen so häufig eigene Phobie, die vor dem Lebendigbegrabenwerden, findet ihre volle Aufklärung in dem Glauben, dass ihr Mann nicht todt war, als man seine Leiche forttrug, einem Glauben, in dem sich die Unfähigkeit so rührend äussert, sich in das plötzliche Aufhören der Gemeinschaft mit dem geliebten Wesen zu finden. Ich meine übrigens, dass alle diese physischen Momente nur die Auswahl, aber nicht die Fortdauer der Phobien erklären können. Für letztere muss ich ein neurotisches Moment heranziehen, den Umstand nämlich, dass die Patientin sich seit Jahren in sexueller Abstinenz befand, womit einer der häufigsten Anlässe zur Angstneigung gegeben ist.

[75] Die bei unserer Kranken vorhandenen Abulien (Willenshemmungen, Unfähigkeiten) gestatten noch weniger als die Phobien die Auffassung von psychischen Stigmen in Folge allgemein eingeengter Leistungsfähigkeit. Vielmehr macht die hypnotische Analyse des Falles ersichtlich, dass die Abulien hier durch einen zweifachen psychischen Mechanismus bedingt werden, der im Grunde wieder nur einer ist. Die Abulie ist entweder einfach die Folge einer Phobie, nämlich in allen den Fällen, in denen die Phobie sich an eine eigene Handlung knüpft anstatt an eine Erwartung (Ausgehen, Menschen aufsuchen; – der andere Fall, dass sich jemand einschleicht u. s. w.), und Ursache der Willenshemmung ist die mit dem Erfolg der Handlung verknüpfte Angst. Man thäte Unrecht daran, diese Art von Abulien neben den ihnen entsprechenden Phobien als besondere Symptome aufzuführen, nur muss man zugestehen, dass eine derartige Phobie bestehen kann, wenn sie nicht allzu hochgradig ist, ohne zur Abulie zu führen. Die andere Art der Abulien beruht auf der Existenz affectvoll betonter, ungelöster Associationen, die sich der Anknüpfung neuer Associationen, und insbesondere unverträglicher Art widersetzen. Das glänzendste Beispiel einer solchen Abulie bietet die Anorexie unserer Kranken. Sie isst nur so wenig, weil es ihr nicht schmeckt, und sie kann dem Essen keinen Geschmack abgewinnen, weil der Act des Essens bei ihr von Alters her mit Ekelerinnerungen verknüpt ist, deren Affectbetrag noch keine Verminderung erfahren ist. Es ist aber unmöglich, gleichzeitig mit Ekel und mit Lust zu essen. Die Verminderung des an den Mahlzeiten von früher her haftenden Ekels hat darum nicht stattgehabt, weil sie alle Male den Ekel unterdrücken musste, anstatt sich von ihm durch Reaction zu befreien; als Kind war sie aus Furcht vor Strafe gezwungen, mit Ekel die kalte Malzeit zu essen, und in reiferen Jahren verhinderte sie die Rücksicht auf die Brüder, die Affecte zu äussern, denen sie bei den gemeinsam genommenen Malzeiten unterlag.

Ich darf hier vielleicht an eine kleine Arbeit erinnern, in der ich versucht habe, eine psychologische Erklärung der hysterischen Lähmungen zu geben. Ich gelangte dort zur Annahme, die Ursache dieser Lähmungen liege in der Unzugänglichkeit des Vorstellungskreises etwa einer Extremität für neue Associationen; diese associative Unzugänglichkeit selbst rühre aber davon her, dass die Vorstellung des gelähmten Gliedes in die mit unerledigtem Affect behaftete Erinnerung des Traumas einbezogen sei. Ich führte aus den Beispielen des gewöhnlichen [76] Lebens an, dass eine solche Besetzung einer Vorstellung mit unerledigtem Affect jedesmal ein gewisses Maass von associativer Unzugänglichkeit, von Unverträglichkeit mit neuen Besetzungen mit sich bringt.[25]

Es ist mir nun bis heute nicht gelungen, meine damaligen Voraussetzungen für einen Fall von motorischer Lähmung durch hypnotische Analyse zu erweisen, aber ich kann mich auf die Anorexie der Frau v. N . . als Beweis dafür berufen, dass dieser Mechanismus für gewisse Abulien der zutreffende ist, und Abulien sind ja nichts anderes als sehr specialisirte, – „systematisirte“ nach französischem Ausdruck – psychische Lähmungen.

Man kann den psychischen Sachverhalt bei Frau v. N . . im Wesentlichen charakterisiren, wenn man zweierlei hervorhebt: 1. Es sind bei ihr die peinlichen Affecte von traumatischen Erlebnissen unerledigt verblieben, so die Verstimmung, der Schmerz (über den Tod des Mannes), der Groll (von den Verfolgungen der Verwandten), der Ekel (von den gezwungenen Mahlzeiten), die Angst (von so vielen schreckhaften Erlebnissen), u. s. w. und 2. es besteht bei ihr eine lebhafte Erinnerungsthätigkeit, welche bald spontan, bald auf erweckende Reize der Gegenwart hin (z. B. bei der Nachricht von der Revolution in S. Domingo) Stück für Stück der Traumen mitsammt den sie begleitenden Affecten in’s actuelle Bewusstsein ruft. Meine Therapie schloss sich dem Gange dieser Erinnerungsthätigkeit an und suchte Tag für Tag aufzulösen und zu erledigen, was der Tag an die Oberfläche gebracht hatte, bis der erreichbare Vorrath an krankmachenden Erinnerungen erschöpft schien.

An diese beiden psychischen Charaktere, die ich für allgemeine Befunde bei hysterischen Paroxysmen halte, Hessen sich einige wichtige Betrachtungen anschliessen, die ich verschieben will, bis dem Mechanismus der körperlichen Symptome einige Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Man kann nicht die gleiche Ableitung für alle körperlichen Symptome der Kranken geben, vielmehr erfährt man selbst aus diesem hieran nicht reichen Falle, dass die körperlichen Symptome einer Hysterie auf verschiedene Weisen zu Stande kommen. Ich gestatte mir zunächst, die Schmerzen zu den körperlichen Symptomen zu stellen. Soviel ich sehen kann, war ein Theil der Schmerzen gewiss organisch bedingt durch jene leichten (rheumatischen) Veränderungen in Muskeln, [77] Sehnen und Fascien, die dem Nervösen soviel mehr Schmerz bereiten als dem Gesunden; ein anderer Theil der Schmerzen war höchst wahrscheinlich Schmerzerinnerung, Erinnerungssymbol der Zeiten von Aufregung und Krankenpflege, die im Leben der Kranken so viel Platz eingenommen hatten. Auch diese Schmerzen mochten ursprünglich einmal organisch berechtigt gewesen sein, waren aber seither für die Zwecke der Neurose verarbeitet worden. Ich stütze diese Aussagen über die Schmerzen bei Frau v. N. .. auf anderswo gemachte Erfahrungen, welche ich an einer späteren Stelle dieser Arbeit mittheilen werde; an der Kranken selbst war gerade über diesen Punkt wenig Aufklärung zu gewinnen.

Ein Theil der auffälligen Bewegungserscheinungen, welche Frau v. N .. zeigte, war einfach Ausdruck von Gemüthsbewegung und leicht in dieser Bedeutung zu erkennen, so das Vorstrecken der Hände mit gespreizten und gekrümmten Fingern als Ausdruck des Grausens, das Mienenspiel und dgl. Allerdings ein lebhafterer und ungehemmterer Ausdruck der Gemüthsbewegung als der sonstigen Mimik dieser Frau, ihrer Erziehung und ihrer Race entsprach; sie war, wenn nicht im hysterischen Zustande, gemessen, fast steif in ihren Ausdrucksbewegungen. Ein anderer Theil ihrer Bewegungssymptome stand nach ihrer Angabe in directem Zusammenhang mit ihren Schmerzen; sie spielte ruhelos mit den Fingern (1888), oder rieb die Hände an einander (1889), um nicht schreien zu müssen, und diese Motivirung erinnert lebhaft an eines der Darwin’schen Principien zur Erklärung der Ausdrucksbewegung, an das Princip der „Ableitung der Erregung“, durch welches er z. B. das Schweifwedeln der Hunde erklärt. Den Ersatz des Schreiens bei schmerzhaften Reizen durch andersartige motorische Innervation üben wir übrigens Alle. Wer sich beim Zahnarzt vorgenommen hat, Kopf und Mund ruhig zu halten und nicht mit den Händen dazwischenzufahren, der trommelt wenigstens mit den Füssen.

Eine complicirtere Weise der Conversion lassen die tickähnlichen Bewegungen bei Frau v. N .. erkennen, das Zungenschnalzen und Stottern, das Rufen ihres Namens „Emmy“ im Anfall von Verworrenheit, die zusammengesetzte Schutzformel – „Seien sie still – Reden sie nichts – Rühren sie mich nicht an“ (1888). Von diesen motorischen Aeusserungen lassen Stottern und Schnalzen eine Erklärung nach einem Mechanismus zu, den ich in einer kleinen Mittheilung in der Zeitschrift für Hypnotismus Band I, 1893 als „Objectivirung der Contrastvorstellung“ bezeichnet habe. Der Vorgang hierbei wäre, an [78] unserem Beispiel selbst erläutert, folgender: Die durch Sorge und Wachen erschöpfte Hysterica sitzt beim Bette ihres kranken Kindes, das endlich! eingeschlafen ist. Sie sagt sich: Jetzt musst du aber ganz stille sein, damit du die Kleine nicht aufweckst. Dieser Vorsatz erweckt wahrscheinlich eine Contrastvorstellung, die Befürchtung, sie werde doch ein Geräusch machen, das die Kleine aus dem lang ersehnten Schlafe weckt. Solche Contrastvorstellungen gegen den Vorsatz entstehen auch in uns merklicher Weise dann, wenn wir uns in der Durchführung eines wichtigen Vorsatzes nicht sicher fühlen.

Der Neurotische, in dessen Selbstbewusstsein ein Zug von Depression, von ängstlicher Erwartung selten vermisst wird, bildet solcher Contrastvorstellungen eine grössere Anzahl, oder er nimmt sie leichter wahr; sie erscheinen ihm auch bedeutsamer. Im Zustande der Erschöpfung, in dem sich unsere Kranke befindet, erweist sich nun die Contrastvorstellung, die sonst abgewiesen wurde, als die stärkere; sie ist es, die sich objectivirt, und die nun zum Entsetzen der Kranken das gefürchtete Geräusch wirklich erzeugt. Zur Erklärung des ganzen Vorganges nehme ich noch an, dass die Erschöpfung eine partielle ist; sie betrifft, wie man in den Terminis Janet’s und seiner Nachfolger sagen würde, nur das primäre Ich der Kranken, sie hat nicht zur Folge, dass auch die Contrastvorstellung geschwächt wird.

Ich nehme ferner an, dass es das Entsetzen über das wider Willen producirte Geräusch ist, welches den Moment zu einem traumatisch wirksamen macht und dies Geräusch selbst als leibliches Erinnerungssymptom der ganzen Scene fixirt. Ja, ich glaube in dem Charakter dieses Ticks selbst, der aus mehreren spastisch hervorgestossenen, durch Pausen von einander getrennten Lauten besteht, die am meisten mit Schnalzen Aehnlichkeit haben, die Spur des Vorganges zu erkennen, dem er seine Entstehung verdankte. Es scheint, dass sich ein Kampf zwischen dem Vorsatz und der Contrastvorstellung, dem „Gegenwillen“, abgespielt hat, der dem Tick den abgesetzten Charakter gab, und der die Contrastvorstellung auf ungewöhnliche Innervationswege der Sprachmuskulatur einschränkte.

Von einem im Wesen ähnlichen Anlass blieb die spastische Sprachhemmung, das eigenthümliche Stottern übrig, nur dass diesmal nicht der Erfolg der schliesslichen Innervation, der Schrei, sondern der Innervationsvorgang selbst, der Versuch einer krampfhaften Hemmung der Sprachwerkzeuge zum Symbol des Ereignisses für die Erinnerung erhoben wurde.

[79] Beide, durch ihre Entstehungsgeschichte nahe verwandten Symptome, Schnalzen und Stottern, blieben auch fernerhin associirt und wurden durch eine Wiederholung bei einem ähnlichen Anlasse zu Dauersymptomen. Dann aber wurden sie einer weiteren Verwendung zugeführt. Unter heftigem Erschrecken entstanden, gesellten sie sich von nun an (nach dem Mechanismus der monosymptomatischen Hysterie, den ich bei Fall V aufzeigen werde) zu jedem Schreck hinzu, wenn derselbe auch nicht zum Objectiviren einer Contrastvorstellung Anlass geben konnte.

Sie waren endlich mit so vielen Traumen verknüpft, hatten soviel Recht, sich in der Erinnerung zu reproduciren, dass sie ohne weiteren Anlass nach Art eines sinnlosen Tick beständig die Rede unterbrachen. Die hypnotische Analyse konnte dann aber zeigen, wieviel Bedeutung sich hinter diesem scheinbaren Tick verberge, und wenn es der Breuer’schen Methode hier nicht gelang, beide Symptome mit einem Schlage vollständig zum Verschwinden zu bringen, so kam diess daher, dass die Katharsis nur auf die drei Haupttraumen und nicht auf die secundär associirten ausgedehnt wurde.[26]

[80] Das Rufen des Namens „Emmy“ in Anfällen von Verwirrung, welche nach den Regeln hysterischer Anfälle die häufigen Zustände [81] von Rathlosigkeit während der Cur der Tochter reproducirten, war durch einen complicirten Gedankengang mit dem Inhalt des Anfalls verknüpft und entsprach etwa einer Schutzformel der Kranken gegen diesen Anfall. Dieser Ruf hätte wahrscheinlich auch die Eignung gehabt, in mehr lockerer Ausnützung seiner Bedeutung zum Tick herabzusinken; die complicirte Schutzformel „Rühren Sie mich nicht an etc.“ war zu dieser Anwendung bereits gelangt, aber die hypnotische Therapie hielt in beiden Fällen die weitere Entwicklung dieser Symptome auf. Den ganz frisch entstandenen Ruf „Emmy“ fand ich noch auf seinen Mutterboden, den Anfall von Verwirrung, beschränkt.

Ob nun diese motorischen Symptome wie das Schnalzen durch Objectivirung einer Contrastvorstellung, wie das Stottern durch blosse Conversion der psychischen Erregung in’s Motorische, wie der Ruf „Emmy“ und die längere Formel als Schutzvorrichtungen durch gewollte Action der Kranken im hysterischen Paroxysmus entstanden sein mögen, ihnen allen ist das Eine gemeinsam, dass sie ursprünglich oder fortdauernd in einer aufzeigbaren Verbindung mit Traumen stehen, für welche sie in der Erinnerungsthätigkeit als Symbole eintreten.

Andere körperliche Symptome der Kranken sind überhaupt nicht hysterischer Natur, so die Genickkrämpfe, die ich als modificirte Migränen auffasse, und die als solche eigentlich gar nicht zu den Neurosen, sondern zu den organischen Affectionen zu stellen sind. An sie knüpfen sich aber regelmässig hysterische Symptome an; bei Frau v. N. werden die Genickkrämpfe zu hysterischen Anfällen verwendet, während sie über die typischen Erscheinungsformen des hysterischen Anfalles nicht verfügte.

Ich will die Charakteristik des psychischen Zustandes der Frau v. N. vervollständigen, indem ich mich den bei ihr nachweisbaren krankhaften Veränderungen des Bewusstseins zuwende. Wie durch die Genickkrämpfe, so wird sie auch durch peinliche Eindrücke der Gegenwart (vgl. das letzte Delirium im Garten) oder durch mächtige Anklänge an eines ihrer Traumen in einen Zustand von Delirium versetzt, in welchem – nach den wenigen Beobachtungen, die ich darüber anstellte, kann ich nichts anderes aussagen – eine ähnliche Einschränkung des Bewusstseins, ein ähnlicher Associationszwang wie im Traum obwaltet, Hallucinationen und Illusionen äusserst erleichtert sind und schwachsinnige oder geradezu widersinnige Schlüsse [82] gezogen werden. Dieser Zustand, mit einer geistigen Alienation vergleichbar, vertritt wahrscheinlich ihren Anfall, etwa eine acute Psychose als Anfallsäquivalent, die man als „hallucinatorische Verworrenheit“ classificiren würde. Eine weitere Aehnlichkeit mit dem typischen hysterischen Anfall liegt noch darin, dass zumeist ein Stück der alten traumatischen Erinnerungen als Grundlage des Deliriums nachweisbar ist. Der Uebergang aus dem Normalzustand in dieses Delirium vollzieht sich häufig ganz unmerklich; eben hat sie noch ganz correct von wenig affectiven Dingen gesprochen und bei der Fortsetzung des Gespräches, das sie auf peinliche Vorstellungen führt, merke ich an ihren gesteigerten Gesten, an dem Auftreten ihrer Spruchformeln und dgl., dass sie delirirt. Zu Beginn der Behandlung zog sich das Delirium durch den ganzen Tag hindurch, so dass es schwer fiel, von den einzelnen Symptomen mit Sicherheit anzusagen, ob sie – wie die Gesten – nur dem psychischen Zustand als Anfallssymptome angehörten, oder wie Schnalzen und Stottern zu wirklichen Dauersymptomen geworden waren. Oft gelang es erst nachträglich zu unterscheiden, was im Delirium, was im Normalzustand vorgefallen war. Die beiden Zustände waren nämlich durch das Gedächtniss getrennt, und sie war dann aufs äusserste erstaunt zu hören, welche Dinge das Delirium an eine im Normalen geführte Conversation angestückelt hatte. Meine erste Unterhaltung mit ihr war das merkwürdigste Beispiel dafür, wie die beiden Zustände durch einander durchgingen, ohne von einander Notiz zu nehmen. Nur einmal ereignete sich während dieses psychischen Wippens eine Beeinflussung des die Gegenwart verfolgenden Normalbewusstseins, als sie mir die aus dem Delirium stammende Antwort gab, sie sei eine Frau aus dem vorigen Jahrhundert.

Die Analyse dieses Deliriums bei Frau v. N. ist wenig erschöpfend geworden, hauptsächlich darum, weil ihr Zustand sich alsbald so besserte, dass die Delirien sich scharf vom Normalleben sonderten und sich auf die Zeiten der Genickkrämpfe einschränkten. Um so mehr Erfahrung habe ich über das Verhalten der Patientin in einem dritten psychischen Zustand, in dem des künstlichen Somnambulismus, gesammelt. Während sie in ihrem eigenen Normalzustande nicht wusste, was sie in ihren Delirien und was sie im Somnambulismus psychisch erlebt hatte, verfügte sie im Somnambulismus über die Erinnerungen aller drei Zustände; sie war hier eigentlich am normalsten. Wenn ich abziehe, dass sie als Somnambule weit weniger [83] reservirt gegen mich war als in ihren besten Stunden des gewöhnlichen Lebens, d. h. mir als Somnambule Mittheilungen über ihre Familie u. dgl. machte, während sie mich sonst behandelte als wäre ich ein Fremder, wenn ich ferner davon absehe, dass sie die volle Suggerirbarkeit der Somnambulen zeigte, muss ich eigentlich sagen, sie war als Somnambule in einem vollkommen normalen Zustande. Es war interessant zu beobachten, dass dieser Somnambulismus andererseits keinen Zug des Uebernormalen zeigte, dass er mit allen psychischen Mängeln behaftet war, die wir dem normalen Bewusstseinszustande zutrauen. Das Verhalten des somnambulen Gedächtnisses mögen folgende Proben erläutern. Einmal drückte sie mir im Gespräch ihr Entzücken über eine schöne Topfpflanze aus, welche die Vorhalle des Sanatoriums zierte. „Aber wie heisst sie nur, Herr Doctor? Wissen Sie nicht? Ich habe den deutschen und den lateinischen Namen gewusst und beide vergessen.“ Sie war eine treffliche Kennerin der Pflanzen, während ich bei dieser Gelegenheit meine botanische Unbildung eingestand. Wenige Minuten später frage ich sie in der Hypnose: Wissen Sie jetzt den Namen der Pflanze im Stiegenhaus? Die Antwort lautet ohne jedes Besinnen: Mit dem deutschen Namen heisst sie Türkenlilie, den lateinischen habe ich wirklich vergessen. Ein andermal erzählt sie mir in gutem Wohlbefinden von einem Besuch in den Katakomben von Rom und kann sich auf zwei Termine der Beschreibung nicht besinnen, zu denen auch ich ihr nicht verhelfen kann. Unmittelbar darauf erkundige ich mich in der Hypnose, welche Worte sie meinte. Sie weiss es auch in der Hypnose nicht. Ich sage darauf: Denken Sie nicht weiter nach, morgen zwischen 5 und 6 Uhr Nachmittags im Garten, näher an 6 Uhr, werden sie Ihnen plötzlich einfallen.

Am nächsten Abend platzt sie während einer den Katakomben ganz entfremdeten Unterhaltung plötzlich heraus: Krypte, Herr Doctor, und Columbarium. – Ah, das sind ja die Worte, auf die Sie gestern nicht kommen konnten. Wann sind sie Ihnen denn eingefallen? – Heute Nachmittag im Garten, kurz ehe ich hinaufgegangen bin. – Ich merkte, dass sie mir auf diese Weise zeigen wollte, sie habe genau die angegebene Zeit eingehalten, denn sie war gewohnt, den Garten gegen 6 Uhr zu verlassen. So verfügte sie also auch im Somnambulismus nicht über den ganzen Umfang ihres Wissens, es gab auch für ihn noch ein actuelles und ein potentielles Bewusstsein. Oft genug kam es auch vor, dass sie im Somnambulismus auf meine [84] Frage: Woher rührt diese oder jene Erscheinung? die Stirne in Falten zog und nach einer Pause kleinlaut die Antwort gab: Das weiss ich nicht. Dann hatte ich die Gewohnheit angenommen zu sagen: Besinnen Sie sich, Sie werden es gleich erfahren; und sie konnte mir nach ein wenig Nachdenken die verlangte Auskunft geben. Es traf sich aber auch, dass ihr nichts einfiel, und dass ich ihr die Aufgabe hinterlassen musste, sich bis morgen daran zu erinnern, was auch jedesmal zutraf. Die Frau, die im gewöhnlichen Leben peinlichst jeder Unwahrheit aus dem Wege ging, log auch in der Hypnose niemals; es kam aber vor, dass sie unvollständige Angaben machte, mit einem Stück des Berichtes zurückhielt, bis ich ein zweites Mal die Vervollständigung erzwang. Wie in dem auf pag. 66 gegebenen Beispiel, war es meist die Abneigung, die ihr das Thema einflösste, welche ihr auch im Somnambulismus den Mund verschloss. Trotz dieser Züge von Einschränkung war aber doch der Eindruck, den ihr psychisches Verhalten im Somnambulismus machte, im Ganzen der einer ungehemmten Entfaltung ihrer geistigen Kraft und der vollen Verfügung über ihren Erinnerungsschatz.

Ihre unleugbar grosse Suggerirbarkeit im Somnambulismus war indess von einer krankhaften Widerstandslosigkeit weit entfernt. Im Ganzen muss ich sagen, machte ich doch nicht mehr Eindruck auf sie, als ich bei solchem Eingehen auf den psychischen Mechanismus bei jeder Person hätte erwarten dürfen, die mir mit grossem Vertrauen und in voller Geistesklarheit gelauscht hätte, nur dass Frau v. N. mir in ihrem sogenannten Normalzustand eine solche günstige psychische Verfassung nicht entgegenbringen konnte. Wo es mir, wie bei der Thierfurcht, nicht gelang, ihr Gründe der Ueberzeugung beizubringen, oder wo ich nicht auf die psychische Entstehungsgeschichte des Symptoms einging, sondern mittelst autoritativer Suggestion wirken wollte, da merkte ich jedesmal den gespannten, unzufriedenen Ausdruck in der Miene der Somnambulen, und wenn ich dann zum Schlüsse fragte: Also, werden Sie sich noch vor diesem Thier fürchten? war die Antwort: Nein, – weil Sie es verlangen. Ein solches Versprechen, das sich nur auf ihre Gefügigkeit gegen mich stützen konnte, hatte aber eigentlich niemals Erfolg, so wenig Erfolg wie die vielen allgemeinen Lehren, die ich ihr gab, anstatt deren ich eben so gut die eine Suggestion: Seien Sie gesund, hätte wiederholen können.

Dieselbe Person, die ihre Krankheitssymptome gegen die Suggestion so hartnäckig festhielt und sie nur gegen psychische Analyse [85] oder Ueberzeugung fallen liess, war andererseits gefügig wie das beste Spitalsmedium, wo es sich um belanglose Suggestionen handelte, Dinge, die nicht in Beziehung zu ihrer Krankheit standen. Ich habe Beispiele von solchem posthypnotischen Gehorsam in der Krankengeschichte mitgetheilt. Ich finde keinen Widerspruch in diesem Verhalten. Das Recht der stärkeren Vorstellung musste sich auch hier geltend machen. Wenn man auf den Mechanismus der pathologischen „fixen Idee“ eingeht, findet man dieselbe begründet und gestützt durch so viele und intensiv wirkende Erlebnisse, dass man sich nicht wundern kann, wenn sie im Stande ist, der suggerirten, wiederum nur mit einer gewissen Kraft ausgestatteten, Gegenvorstellung erfolgreich Widerstand zu leisten. Es wäre nur ein wahrhaft pathologisches Gehirn, in dem es möglich wäre, so berechtigte Ergebnisse intensiver psychischer Vorgänge durch die Suggestion wegzublasen.[27]

[86] Als ich den somnambulen Zustand der Frau v. N. studirte, stiegen in mir zum erstenmal gewichtige Zweifel an der Richtigkeit des Satzes Bernheim’s: Tout est dans la Suggestion, und an dem Gedankengange seines scharfsinnigen Freundes Delboef „Comme quoi il n’y a pas d’hypnotisme“ auf. Ich kann es auch heute nicht verstehen, dass mein vorgehaltener Finger und das einmalige „Schlafen Sie“ den besonderen psychischen Zustand der Kranken geschaffen haben soll, in dem ihr Gedächtnis alle ihre psychischen Erlebnisse umfasste. Ich konnte den Zustand hervorgerufen haben, geschaffen habe ich ihn nicht durch meine Suggestion, da seine Charaktere, die übrigens allgemein giltige sind, mich so sehr überraschten.

Auf welche Weise hier im Somnambulismus Therapie geübt wurde, ist aus der Krankengeschichte zur Genüge ersichtlich. Ich bekämpfte, wie es in der hypnotischen Psychotherapie gebräuchlich, die vorhandenen krankhaften Vorstellungen durch Versicherung, Verbot, Einführung von Gegenvorstellungen jeder Art, begnügte mich aber nicht damit, sondern ging der Entstehungsgeschichte der einzelnen Symptome nach, um die Voraussetzungen bekämpfen zu können, auf denen die krankhaften Ideen aufgebaut waren. Während dieser Analysen ereignete es sich dann regelmässig, dass die Kranke sich unter den Zeichen heftigster Erregung über Dinge aussprach, deren Affect bisher nur Abfluss als Ausdruck von Gemüthsbewegung gefunden hatte. Wieviel von dem jedesmaligen therapeutischen Erfolg auf dies Wegsuggeriren in statu nascendi, wieviel auf die Lösung des Affectes durch Abreagiren kam, kann ich nicht angeben, denn ich habe beide therapeutischen Momente zusammenwirken lassen. Dieser Fall wäre demnach für den strengen Nachweis, dass der [87] kathartischen Methode eine therapeutische Wirksamkeit innewohnt, nicht zu verwerten, allein ich muss doch sagen, dass nur jene Krankheitssymptome wirklich auf die Dauer beseitigt worden sind, bei denen ich die psychische Analyse durchgeführt hatte.

Der therapeutische Erfolg war im Ganzen ein recht beträchtlicher, aber kein dauernder; die Eignung der Kranken, unter neuerlichen Traumen, die sie trafen, in änlicher Weise zu erkranken, wurde nicht beseitigt. Wer die endgiltige Heilung einer solchen Hysterie unternehmen wollte, müsste sich eingehendere Rechenschaft über den Zusammenhang der Phänomene geben, als ich damals versuchte. Frau v. N. war sicherlich eine neuropathisch hereditär belastete Person. Ohne solche Disposition bringt man wahrscheinlich überhaupt keine Hysterie zu Stande. Aber die Disposition allein macht auch noch keine Hysterie, es gehören Gründe dazu und zwar, wie ich behaupte, adäquate Gründe, eine Aetiologie bestimmter Natur. Ich habe vorhin erwähnt, dass bei Frau v. N. die Affecte so vieler traumatischer Erlebnisse erhalten schienen, und dass eine lebhafte Erinnerungsthätigkeit bald dies, bald jenes Trauma an die psychische Oberfläche brachte. Ich möchte mich nun getrauen, den Grund für diese Erhaltung der Affecte bei Frau v. N. anzugeben. Er hängt allerdings mit ihrer hereditären Anlage zusammen. Ihre Empfindungen waren nämlich einerseits sehr intensiv, sie war eine heftige Natur, der grössten Entbindung von Leidenschaftlichkeit fähig; andererseits lebte sie seit dem Tode ihres Mannes in völliger seelischer Vereinsamung, durch die Verfolgungen der Verwandtschaft gegen Freunde misstrauisch gemacht, eifersüchtig darüber wachend, dass Niemand zuviel Einfluss auf ihr Handeln gewinne. Der Kreis ihrer Pflichten war ein grosser, und die ganze psychische Arbeit, die ihr aufgenöthigt war, besorgte sie allein ohne Freund oder Vertraute, fast isolirt von ihrer Familie und unter der Erschwerung, die ihre Gewissenhaftigkeit, ihre Neigung zur Selbsquälerei, oft auch ihre natürliche Rathlosigkeit als Frau ihr auferlegten. Kurz, der Mechanismus der Retention grosser Erregungssummen an und für sich ist hier nicht zu verkennen. Er stützt sich theils auf die Umstände ihres Lebens, theils auf ihre natürliche Anlage; ihre Scheu z. B., etwas über sich mitzutheilen, war so gross, dass keiner von den täglichen Besuchern ihres Hauses, wie ich 1891 mit Erstaunen merkte, sie als krank oder mich als ihren Arzt kannte.

Ob ich damit die Aetiologie dieses Falles von Hysterie erschöpft habe? Ich glaube es nicht, denn ich stellte mir zur Zeit der beiden [88] Behandlungen noch nicht jene Fragen, deren Beantwortung es für eine erschöpfende Aufklärung bedarf. Ich denke jetzt, es muss noch etwas hinzugekommen sein, um bei den durch lange Jahre unveränderten ätiologisch wirksamen Verhältnissen einen Ausbruch des Leidens gerade in den letzten Jahren zu provociren. Es ist mir auch aufgefallen, dass in all den intimen Mittheilungen, die mir die Patientin machte, das sexuelle Element, das doch wie kein anderes Anlass zu Traumen gibt, völlig fehlte. So ohne jeglichen Rest können die Erregungen in dieser Sphäre wohl nicht geblieben sein, es war wahrscheinlich eine editio in usum delphini ihrer Lebensgeschichte, die ich zu hören bekam. Die Patientin war in ihrem Benehmen von der grössten, ungekünstelt erscheinenden Decenz, ohne Prüderie. Wenn ich aber an die Zurückhaltung denke, mit der sie mir in der Hypnose das kleine Abenteuer ihrer Kammerfrau im Hôtel erzählte, komme ich auf den Verdacht, diese heftige, so starker Empfindungen fähige Frau habe den Sieg über ihre sexuellen Bedürfnisse nicht ohne schwere Kämpfe gewonnen, und sich zu Zeiten bei dem Versuch einer Unterdrückung dieses mächtigsten aller Triebe psychisch schwer erschöpft. Sie gestand mir einmal, dass sie nicht wieder geheiratet habe, weil sie bei ihrem grossen Vermögen der Uneigennützigkeit der Bewerber nicht vertrauen konnte, und weil sie sich Vorwürfe gemacht hätte, den Interessen ihrer beiden Kinder durch eine neue Verheiratung zu schaden.

Noch eine Bemerkung muss ich anfügen, ehe ich die Krankengeschichte der Frau v. N. beschliesse. Wir kannten sie beide ziemlich genau, Dr. Breuer und ich, und durch ziemlich lange Zeit, und wir pflegten zu lächeln, wenn wir ihr Charakterbild mit der Schilderung der hysterischen Psyche verglichen, die sich seit alten Zeiten durch die Bücher und die Meinung der Aerzte zieht. Wenn wir aus der Beobachtung der Frau Cäcilie M. ... ersehen hatten, dass Hysterie schwerster Form mit der reichhaltigsten und originellsten Begabung vereinbar ist – eine Thatsache, die übrigens aus den Biographien der für Geschichte und Literatur bedeutsamen Frauen bis zur Evidenz hervorleuchtet, – so hatten wir an Frau Emmy v. N. ein Beispiel dafür, dass die Hysterie auch tadellose Charakterentwicklung und zielbewusste Lebensführung nicht ausschliesst. Es war eine ausgezeichnete Frau, die wir kennen gelernt hatten, deren sittlicher Ernst in der Auffassung ihrer Pflichten, deren geradezu männliche Intelligenz und Energie, deren hohe Bildung und Wahrheitsliebe uns beiden imponirte, während ihre gütige Fürsorge für alle ihr unterstehenden Personen, [89] ihre innere Bescheidenheit und die Feinheit ihrer Umgangsformen sie auch als Dame achtenswert erscheinen liess. Eine solche Frau eine „Degenerirte“ zu nennen, heisst die Bedeutung dieses Wortes bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Man thut gut daran, die „disponirten“ Menschen von den „degenerirten“ begrifflich zu sondern, sonst wird man sich zum Zugeständnis gezwungen sehen, dass die Menschheit einen guten Theil ihrer grossen Errungenschaften den Anstrengungen „degenerirter“ Individuen zu verdanken hat.

Ich gestehe auch, ich kann in der Geschichte der Frau v. N. nichts von der „psychischen Minderleistung“ finden, aufweiche P. Janet die Entstehung der Hysterie zurückführt. Die hysterische Disposition bestünde nach ihm in einer abnormen Enge des Bewusstseinsfeldes (infolge hereditärer Degeneration), welche zur Vernachlässigung ganzer Reihen von Wahrnehmungen, in weiterer Folge zum Zerfall des Ich und zur Organisirung secundärer Persönlichkeiten Anlass gibt. Demnach müsste auch der Rest des Ich, nach Abzug der hysterisch organisirten psychischen Gruppen, minder leistungsfähig sein als das normale Ich, und in der That ist nach Janet dieses Ich bei den Hysterischen mit psychischen Stigmaten belastet, zum Monoideismus verurtheilt und der gewöhnlichen Willensleistungen des Lebens unfähig. Ich meine, Janet hat hier Folgezustände der hysterischen Bewusstseinsveränderung mit Unrecht zu dem Rang von primären Bedingungen der Hysterie erhoben. Das Thema ist einer eingehenderen Behandlung an anderer Stelle wert; bei Frau v. N. aber war von solcher Minderleistung nichts zu bemerken. Während der Periode ihrer schwersten Zustände war und blieb sie fähig, ihren Antheil an der Leitung eines grossen industriellen Unternehmens zu besorgen, die Erziehung ihrer Kinder niemals aus den Augen zu verlieren, ihren Briefverkehr mit geistig hervorragenden Personen fortzusetzen, kurz allen ihren Pflichten soweit nachzukommen, dass ihr Kranksein verborgen bleiben konnte. Ich sollte doch meinen, das ergäbe ein ansehnliches Maass von psychischer Ueberleistung, das vielleicht auf die Dauer nicht haltbar war, das zu einer Erschöpfung, zur sekundären „Misere psychologique“ führen müsste. Wahrscheinlich begannen zur Zeit, da ich sie zuerst sah, bereits solche Störungen ihrer Leistungsfähigkeit sich fühlbar zu machen, aber jedenfalls hatte schwere Hysterie lange Jahre vor diesen Symptomen der Erschöpfung bestanden.


  1. Dieses Schnalzen bestand aus mehreren Tempi; jagdkundige Collegen, die es hörten, verglichen dessen Endlaute mit dem Balzen des Auerhahnes.
  2. Die Worte entsprachen in der That einer Schutzformel, die auch im Weiteren ihre Erklärung findet. Ich habe solche Schutzformeln seither bei einer Melancholica beobachtet, die ihre peinigenden Gedanken (Wünsche, dass ihrem Mann, ihrer Mutter etwas Arges zustossen möge, Gotteslästerungen udgl.) auf diese Art zu beherrschen versuchte.
  3. Es handelte sich um ein hysterisches Delirium, welches mit dem normalen Bewusstseinszustande alternirt, ähnlich wie ein echter Tick sich in eine Willkürbewegung einschiebt, ohne dieselbe zu stören und ohne sich mit ihr zu vermengen.
  4. Beim Erwachen aus der Hypnose blickte sie jedesmal wie verworren einen Augenblick herum, liess dann ihre Augen auf mir ruhen, schien sich besonnen zu haben, zog die Brille an, die sie vor dem Einschlafen abgelegt hatte, und war dann heiter und ganz bei sich. Obwohl wir im Verlaufe der Behandlung, die in diesem Jahre 7, im nächsten 8 Wochen einnahm, über alles Mögliche mit einander sprachen und sie fast täglich zweimal von mir eingeschläfert wurde, richtete sie doch nie eine Frage oder Bemerkung über die Hypnose an mich und schien in ihrem Wachzustand die Thatsache, dass sie hypnotisirt werde, möglichst zu ignoriren.
  5. Eine solche plötzliche Einschiebung eines Deliriums in den wachen Zustand war bei ihr nichts Seltenes und wiederholte sich noch oft unter meiner Beobachtung. Sie pflegte zu klagen, dass sie oft im Gespräch die verdrehtesten Antworten gebe, so dass ihre Leute sie nicht verstünden. Bei unserem ersten Besuch antwortete sie mir auf die Frage, wie alt sie sei, ganz ernsthaft: Ich bin eine Frau aus dem vorigen Jahrhundert. Wochen später klärte sie mich auf, sie hätte damals im Delirium an einen schönen alten Schrank gedacht, den sie auf der Reise als Liebhaberin antiker Möbel erworben. Auf diesen Schrank bezog sich die Zeitbestimmung, als meine Frage nach ihrem Alter zu einer Aussage über Zeiten Anlass gab.
  6. Eine Art von Migräne.
  7. Dies Erinnern in lebhaften visuellen Bildern gaben uns viele andere Hysterische an und betonten es ganz besonders für die pathogenen Erinnerungen.
  8. Im Wachen hatte ich auf die Frage nach der Herkunft des Tick die Antwort erhalten: Ich weiss nicht; oh, schon sehr lange.
  9. An die Kröte muss sich wohl eine besondere Symbolik geknüpft haben, die ich zu ergründen leider nicht versucht habe.
  10. welches auch zutraf.
  11. Die Antwort: „Ich weiss es nicht,“ mochte richtig sein, konnte aber ebensowohl die Unlust bedeuten, von den Gründen zu reden. Ich habe später bei anderen Kranken die Erfahrung gemacht, dass sie sich auch in der Hypnose um so schwerer an etwas besannen, je mehr Anstrengung sie dazu verwendet hatten, das betreffende Ereigniss aus ihrem Bewusstsein zu drängen.
  12. Wie man hier erfährt, sind das tickähnliche Schnalzen und das spastische Stottern der Patientin zwei Symptome, die auf ähnliche Veranlassungen und einen analogen Mechanismus zurückgehen. Ich habe diesem Mechanismus in einem kleinen Aufsatze: „Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemerkungen über den hysterischen Gegenwillen“ (Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. I) Aufmerksamkeit geschenkt, werde übrigens auch hier darauf zurückkommen.
  13. Alle solche lehrhafte Suggestionen schlugen bei Frau Emmy fehl, wie die Folge gezeigt hat.
  14. Ich bin diesmal in meiner Energie wohl zu weit gegangen. Noch 1½ Jahre später, als ich Frau Emmy in relativ hohem Wohlbefinden wiedersah, klagte sie mir, es sei merkwürdig, dass sie sich an gewisse, sehr wichtige Momente ihres Lebens nur höchst ungenau erinnern könne. Sie sah darin einen Beweis für die Abnahme ihres Gedächtnisses, während ich mich hüten musste, ihr die Erklärung für diese specielle Amnesie zu geben. Der durchschlagende Erfolg der Therapie in diesem Punkte rührte wohl auch daher, dass ich mir diese Erinnerung so ausführlich erzählen liess (weit ausführlicher, als es die Notizen bewahrt haben), während ich mich sonst zu oft mit blossen Erwähnungen begnügte.
  15. Ich verstand diese kleine Scene erst am nächsten Tag. Ihre ungeberdige Natur, die sich im Wachen wie im künstlichen Schlaf gegen jeden Zwang aufbäumte, hatte sie darüber zornig werden lassen, dass ich ihre Erzählung für vollendet nahm und sie durch meine abschliessende Suggestion unterbrach. Ich habe viele andere Beweise dafür, dass sie meine Arbeit in ihrem hypnotischen Bewusstsein kritisch überwachte. Wahrscheinlich wollte sie mir den Vorwurf machen, dass ich sie heute in der Erzählung störe, wie ich sie vorhin bei den Irrenhausgräueln gestört hatte, getraute sich dessen aber nicht, sondern brachte diese Nachträge anscheinend unvermittelt vor, ohne den verbindenden Gedankengang zu verrathen. Am nächsten Tag klärte mich dann eine verweisende Bemerkung über meinen Fehlgriff auf.
  16. Ich habe leider in diesem Falle versäumt, nach der Bedeutung der Zoopsie zu forschen, etwa sondern zu wollen, was an der Thierfurcht primäres Grausen war, wie es vielen Neuropathen von Jugend auf eigen ist, und was Symbolik.
  17. Das visuelle Erinnerungszeichen der grossen Eidechse war zu dieser Bedeutung gewiss nur durch das zeitliche Zusammentreffen mit einem grossen Affect gelangt, dem sie während jener Theatervorstellung unterlegen sein muss. Ich habe mich aber in der Therapie dieser Kranken, wie schon eingestanden, häufig mit den oberflächlichsten Ermittlungen begnügt und auch in diesem Falle nicht weiter nachgeforscht. – Man wird übrigens an die hysterische Makropsie erinnert. Frau Emmy war hochgradig kurzsichtig und astigmatisch, und ihre Hallucinationen mochten oft durch die Undeutlichkeit ihrer Gesichtswahrnehmungen provocirt worden sein.
  18. Ich war damals geneigt, für alle Symptome bei einer Hysterie eine psychische Herkunft anzunehmen. Heute würde ich die Angstneigung bei dieser abstinent lebenden Frau neurotisch erklären. (Angstneurose.)
  19. Der Hergang war also folgender gewesen: Als sie am Morgen aufwachte, fand sie sich in ängstlicher Stimmung und griff, um diese Stimmung aufzuklären, zur nächsten ängstlichen Vorstellung, die sich finden wollte. Ein Gespräch über den Lift im Hause der Kinder war am Nachmittag vorher vorgefallen. Die immer besorgte Mutter hatte die Gouvernante gefragt, ob die ältere Tochter, die wegen rechtsseitiger Ovarie und Schmerzen im rechten Bein nicht viel gehen konnte, den Lift auch zum Herunterkommen benütze. Eine Erinnerungstäuschung gestattete ihr dann, die Angst, deren sie sich bewusst war, an die Vorstellung dieses Aufzuges zu knüpfen. Den wirklichen Grund ihrer Angst fand in sie ihrem Bewusstsein nicht; der ergab sich erst, aber ohne jedes Zögern, als ich sie in der Hypnose darum befragte. Es war derselbe Vorgang, den Bernheim und Andere nach ihm bei den Personen studiert haben, die posthypnotisch einen in der Hypnose ertheilten Auftrag ausführen. Z. B. Bernheim (Die Suggestion, 31 der deutschen Uebersetzung) hat einem Kranken suggerirt, dass er nach dem Erwachen beide Daumen in den Mund stecken werde. Er thut es auch und entschuldigt sich damit, dass er seit einem Biss, den er sich Tags vorher im epileptiformen Anfall zugefügt, einen Schmerz in der Zunge empfinde. Ein Mädchen versucht, der Suggestion gehorsam, einen Mordanschlag auf einen ihr völlig fremden Gerichtsbeamten; erfasst und nach den Gründen ihrer That befragt, erfindet sie eine Geschichte von einer ihr zugefügten Kränkung, die eine Rache erforderte. Es scheint ein Bedürfniss vorzuliegen, psychische Phänomene, deren man sich bewusst wird, in causale Verknüpfung mit anderem Bewussten zu bringen. Wo sich die wirkliche Verursachung der Wahrnehmung des Bewusstseins entzieht, versucht man unbedenklich eine andere Verknüpfung, an die man selbst glaubt, obwohl sie falsch ist. Es ist klar, dass eine vorhandene Spaltung des Bewusstseinsinhaltes solchen „falschen Verknüpfungen“ den grössten Vorschub leisten muss.
    Ich will bei dem oben erwähnten Beispiel einer falschen Vernüpfung etwas länger verweilen, weil es in mehr als einer Hinsicht als vorbildlich bezeichnet werden darf. Vorbildlich zunächt für das Verhalten dieser Patientin, die mir im [56] Verlaufe der Behandlung noch wiederholt Gelegenheit gab, mittelst der hypnotischen Aufklärung solche falsche Verknüpfungen zu lösen und die von ihnen ausgehenden Wirkungen aufzuheben. Einen Fall dieser Art will ich ausführlich erzählen, weil er die in Rede stehende psychologische Thatsache grell genug beleuchtet. Ich hatte Frau Emmy v. N ... vorgeschlagen, anstatt der gewohnten lauen Bäder ein kühles Halbbad zu versuchen, von dem ich ihr mehr Erfrischung versprach. Sie leistete ärztlichen Anordnungen unbedingten Gehorsam, verfolgte dieselben aber jedesmal mit dem ärgsten Misstrauen. Ich habe schon berichtet, dass ihr ärztliche Behandlung fast niemals eine Erleichterung gebracht hatte. Mein Vorschlag, kühle Bäder zu nehmen, geschah nicht so autoritativ, dass sie nicht den Muth gefunden hätte, mir ihre Bedenken auszusprechen: „Jedesmal, so oft ich kühle Bäder genommen habe, bin ich den ganzen Tag über melancholisch gewesen. Aber ich versuche es wieder, wenn Sie wollen; glauben Sie nicht, dass ich etwas nicht thue, was Sie sagen.“ Ich verzichtete zum Schein auf meinen Vorschlag, gab ihr aber in der nächsten Hypnose ein, sie möge nur die kühlen Bäder jetzt selbst vorschlagen, sie habe es sich überlegt, wolle doch noch den Versuch wagen u. s. w. So geschah es nun, sie nahm die Idee, kühle Halbbäder zu gebrauchen, selbst am nächsten Tage auf, suchte mich mit all den Argumenten dafür zu gewinnen, die ich ihr vorgetragen hatte, und ich gab ohne viel Eifer nach. Am Tage nach dem Halbbad fand ich sie aber wirklich in tiefer Verstimmung. „Warum sind Sie heute so? – Ich habe es ja vorher gewusst. Von dem kalten Bad, das ist immer so. – Sie haben es selbst verlangt. Jetzt wissen wir, dass Sie es nicht vertragen. Wir kehren zu den lauen Bädern zurück.“ – In der Hypnose fragte ich dann: „War es wirklich das kühle Bad, das Sie so verstimmt hat.“ – „Ach, das kühle Bad hat nichts damit zu thun,“ war die Antwort, „sondern ich habe heute früh in der Zeitung gelesen, dass eine Revolution in S. Domingo ausgebrochen ist. Wenn es dort Unruhen gibt, geht es immer über die Weissen her, und ich habe einen Bruder in S. Domingo, der uns schon soviel Sorge gemacht hat, und ich bin jetzt besorgt, dass ihm nicht etwas geschieht.“ Damit war die Angelegenheit zwischen uns erledigt, sie nahm am nächsten Morgen ihr kühles Halbbad, als ob es sich von selbst verstünde, und nahm es noch durch mehrere Wochen, ohne je eine Verstimmung auf dasselbe zurückzuführen.
    Man wird mir gerne zugeben, dass dieses Beispiel auch typisch ist für das Verhalten so vieler anderer Neuropathen gegen die vom Arzt empfohlene Therapie. Ob es nun Unruhen in S. Domingo oder anderwärts sind, die an einem bestimmten Tag ein gewisses Symptom hervorrufen; der Kranke ist stets geneigt, dies Symptom von der letzten ärztlichen Beeinflussung herzuleiten. Von den beiden Bedingungen, welche für’s Zustandekommen einer solchen falschen Verknüpfung erfordert werden, seheint die eine, das Misstrauen, jederzeit vorhanden zu sein; die andere, die Bewusstseinsspaltung, wird dadurch ersetzt, dass die meisten Neuropathen von den wirklichen Ursachen (oder wenigstens Gelegenheitsursachen), ihres Leidens theils keine Kenntniss haben, theils absichtlich keine Kenntniss [57] nehmen wollen, weil sie ungerne an den Antheil erinnert sind, den eigenes Verschulden daran trägt.
    Man könnte meinen, dass die bei Neuropathen ausserhalb der Hysterie hervorgehobenen psychischen Bedingungen der Unwissenheit oder absichtlichen Vernachlässigung günstiger für die Entstehung einer falschen Verknüpfung sein müssen als das Vorhandensein einer Bewusstseinsspaltung, die doch dem Bewusstsein Material für causale Beziehung entzieht. Allein diese Spaltung ist selten eine reinliche, meist ragen Stücke des unterbewussten Vorstellungscomplexes in’s gewöhnliche Bewusstsein hinein, und gerade diese geben den Anlass zu solchen Störungen. Gewöhnlich ist es die mit dem Complex verbundene Allgemeinempfindung, die Stimmung der Angst, der Trauer, die, wie im obigen Beispiel, bewusst empfunden wird und für die durch eine Art von „Zwang zur Association“ eine Verknüpfung mit einem im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungscomplex hergestellt werden muss. (Vgl. übrigens den Mechanismus der Zwangsvorstellung, den ich in einer Mittheilung im Neurolog. Centralblatt, Nr. 10 u. 11, 1894, angegeben habe. Auch: Obsessions et phobies, Revue neurologique, Nr. 2, 1895.)
    Von der Macht eines solchen Zwanges zur Association habe ich mich unlängst durch Beobachtungen auf anderem Gebiete überzeugen können. Ich musste durch mehrere Wochen mein gewohntes Bett mit einem härteren Lager vertauschen, auf dem ich wahrscheinlich mehr oder lebhafter träumte, vielleicht nur die normale Schlaftiefe nicht erreichen konnte. Ich wusste in der ersten Viertelstunde nach dem Erwachen alle Träume der Nacht und gab mir die Mühe, sie niederzuschreiben und mich an ihrer Lösung zu versuchen. Es gelang mir, diese Träume sämmtlich auf zwei Momente zurückzuführen: 1. auf die Nöthigung zur Ausarbeitung solcher Vorstellungen, bei denen ich tagsüber nur flüchtig verweilt hatte, die nur gestreift und nicht erledigt worden waren, und 2. auf den Zwang, die im selben Bewusstseinszustand vorhandenen Dinge mit einander zu verknüpfen. Auf das freie Walten des letzteren Momentes war das Sinnlose und Widerspruchsvolle der Träume zurückzuführen.
    Dass die zu einem Erlebniss gehörige Stimmung und der Inhalt desselben ganz regelmässig in abweichende Beziehung zum primären Bewusstsein treten können, habe ich an einer anderen Patientin, Frau Cäcilie M., gesehen, die ich weitaus gründlicher als jede andere hier erwähnte Kranke kennen lernte. Ich habe bei dieser Dame die zahlreichsten und überzeugendsten Beweise für einen solchen psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene gesammelt, wie wir ihn in dieser Arbeit vertreten, bin aber leider durch persönliche Umstände verhindert, diese Krankengeschichte, auf die ich mich gelegentlich zu beziehen gedenke, ausführlich mitzutheilen. Frau Cäcilie M. war zuletzt in einem eigenthümlichen hysterischen Zustande, der gewiss nicht vereinzelt dasteht, wenngleich ich nicht weiss, ob er je erkannt worden ist. Man könnte ihn als „hysterische Tilgungspsychose“ bezeichnen. – Die Patientin hatte zahlreiche psychische Traumen erlebt und lange Jahre in einer chronischen Hysterie mit sehr mannigfaltigen Erscheinungen [58] zugebracht. Die Gründe aller dieser Zustände waren ihr und anderen unbekannt, ihr glänzend ausgestattetes Gedächtnis wies die auffälligsten Lücken auf; ihr Leben sei ihr wie zerstückelt, klagte sie selbst. Eines Tages brach plötzlich eine alte Reminiscenz in plastischer Anschaulichkeit mit aller Frische der neuen Empfindung über sie herein, und von da an lebte sie durch fast 3 Jahre alle Traumen ihres Lebens – längst vergessen geglaubte und manche eigentlich nie erinnerte – von Neuem durch mit dem entsetzlichsten Aufwand von Leiden und der Wiederkehr aller Symptome, die sie je gehabt. Diese „Tilgung alter Schulden“ umfasste einen Zeitraum von 33 Jahren und gestattete, von jedem ihrer Zustände die oft sehr complicirte Determinirung zu erkennen. Man konnte ihr Erleichterung nur dadurch bringen, dass man ihr Gelegenheit gab, sich die Reminiscenz, die sie gerade quälte, mit allem dazugehörigen Aufwand an Stimmung und deren körperlichen Aeusserungen in der Hypnose abzusprechen, und wenn ich verhindert war, dabei zu sein, so dass sie vor einer Person sprechen musste, gegen welche sie sich genirt fühlte, so geschah es einige Male, dass sie dieser ganz ruhig die Geschichte erzählte und mir nachträglich in der Hypnose all das Weinen, all die Aeusserungen der Verzweiflung brachte, mit welchen sie die Erzählung eigentlich hätte begleiten wollen. Nach einer solchen Reinigung in der Hypnose war sie einige Stunden ganz wohl und gegenwärtig. Nach kurzer Zeit brach die der Reihe nach nächste Reminiscenz herein. Diese schickte aber die dazu gehörige Stimmung um Stunden voraus. Sie wurde reizbar oder ängstlich oder verzweifelt, ohne je zu ahnen, dass diese Stimmung nicht der Gegenwart, sondern dem Zustande angehöre, der sie zunächst befallen werde. In dieser Zeit des Ueberganges machte sie dann regelmässig eine falsche Verknüpfung, an der sie bis zur Hypnose hartnäckig festhielt. So z. B. empfing sie mich einmal mit der Frage: „Bin ich nicht eine verworfene Person, ist das nicht ein Zeichen der tiefsten Verworfenheit, dass ich Ihnen gestern diess gesagt habe?“ Was sie Tags vorher gesagt hatte, war mir wirklich nicht geeignet, diese Verdammung irgendwie zu rechtfertigen; sie sah es nach kurzer Erörterung auch sehr wohl ein, aber die nächste Hypnose brachte eine Reminiscenz zum Vorschein, bei deren Anlass sie sich vor 12 Jahren einen schweren Vorwurf gemacht hatte, an dem sie in der Gegenwart übrigens gar nicht mehr festhielt.
  20. Bei nachheriger Ueberlegung muss ich mir sagen, dass diese „Genickkrämpfe“ organisch bedingte, der Migräne analoge Zustände gewesen sein mögen. Man sieht in praxi mehr derartige Zustände, die nicht beschrieben sind und die eine so auffällige Uebereinstimmung mit dem classischen Anfall von Hemicranie [59] zeigen, dass man gerne die Begriffsbestimmung der letzteren erweitern und die Localisation des Schmerzes an die zweite Stelle drängen wollte. Wie bekannt pflegen viele neuropathische Frauen mit dem Migränanfall hysterische Anfälle (Zuckungen und Delirien) zu verbinden. So oft ich den Genickkrampf bei Frau Emmy sah, war auch jedesmal ein Anfall von Delirium dabei.
    Was die Arm- und Beinschmerzen angeht, so denke ich, dass hier ein Fall der nicht sehr interessanten, aber um so häufigeren Art der Determinirung durch zufällige Coincidenz vorlag. Sie hatte solche Schmerzen während jener Zeit der Aufregung und Krankenpflege gehabt, in Folge der Erschöpfung stärker als sonst empfunden, und diese, ursprünglich mit jenen Erlebnissen nur zufällig associirten Schmerzen wurden dann in ihrer Erinnerung als das körperliche Symbol des Associationscomplexes wiederholt. Ich werde von beweisenden Beispielen für diesen Vorgang in der Folge noch mehrere anführen können. Wahrscheinlich waren die Schmerzen ursprünglich rheumatische d. h., um dem viel missbrauchten Worte einen bestimmten Sinn zu geben, solche Schmerzen, die hauptsächlich in den Muskeln sitzen, bei denen bedeutende Druckempfindlichkeit und Consistenzveränderung der Muskeln nachzuweisen ist, die sich am heftigsten nach längerer Ruhe oder Fixirung der Extremität äussern, also am Morgen, die auf Einübung der schmerzhaften Bewegung sich bessern und durch Massage zum Verschwinden zu bringen sind. Diese myogenen Schmerzen, bei allen Menschen sehr häufig, gelangen bei den Neuropathen zu grosser Bedeutung; sie werden von ihnen mit Unterstützung der Aerzte, die nicht die Gewohnheit haben, die Muskeln mit dem Fingerdruck zu prüfen, für nervöse gehalten und geben das Material für unbestimmt viele hysterische Neuralgien, sogenannte Ischias u. dgl. ab. Auf die Beziehungen dieses Leidens zur gichtischen Disposition will ich hier nur kurz hinweisen. Mutter und zwei Schwestern meiner Patientin hatten an Gicht (oder chronischem Rheumatismus) im hohen Grade gelitten. Ein Theil der Schmerzen, über welche sie damals klagte, mochte auch gegenwärtiger Natur sein. Ich weiss es nicht; ich hatte damals noch keine Uebung in der Beurtheilung dieses Zustandes der Muskeln.
  21. Es war kaum eine gute Methode, die ich da verfolgte. Dies alles war nicht erschöpfend genug gemacht.
  22. Mit der Zurückführung auf die beiden initialen Traumen sind Stottern und Schnalzen nicht völlig beseitigt worden, obwohl von da ab eine auffällige Verminderung der beiden Symptome eintrat. Die Erklärung für diese Unvollständigkeit des Erfolges gab die Kranke selbst (vergl. p. 43). Sie hatte sich angewöhnt, jedesmal zu schnalzen und zu stottern, so oft sie erschrak, und so hingen diese Symptome schliesslich nicht an den initialen Traumen allein, sondern an einer langen Kette von ihnen associierten Erinnerungen, die wegzuwischen ich unterlassen hatte. Es ist dies ein Fall, der häufig genug vorkommt und jedesmal die Eleganz und Vollständigkeit der therapeutischen Leistung durch die kathartische Methode beeinträchtigt.
  23. Ich erfuhr hier zum ersten Male, wovon ich mich später unzählige Male überzeugen konnte, dass bei der hypnotischen Lösung eines frischen hysterischen Deliriums die Mittheilung des Kranken die chronologische Reihenfolge umkehrt, zuerst die letzterfolgten und minderwichtigen Eindrücke und Gedankenverbindungen mittheilt und erst am Schlusse auf den primären, wahrscheinlich causal wichtigsten Eindruck kommt.
  24. Ihre Verwunderung am Abend vorher, dass sie so lange keinen Genickkrampf gehabt, war also eine Ahnung des nahenden Zustandes, der sich damals schon vorbereitete und im Unbewussten bemerkt wurde. Diese merkwürdige Form der Ahnung war bei der vorhin erwähnten Frau Cäcilie M. etwas ganz Gewöhnliches. Jedesmal, wenn sie mir im besten Wohlbefinden etwa sagte: „Jetzt habe ich mich schon lange nicht bei Nacht vor Hexen gefürchtet“ oder: „Wie froh bin ich, dass mein Augenschmerz so lange ausgeblieben ist,“ konnte ich sicher sein, dass die nächste Nacht der Wärterin den Dienst durch die ärgste Hexenfurcht erschweren, oder dass der nächste Zustand mit dem gefürchteten Schmerz im Auge beginnen werde. Es war jedesmal ein Durchschimmern dessen, was im Unbewussten bereits fertig vorgebildet lag, und das ahnungslose „officielle“ Bewusstsein (nach Charcots Bezeichnung) verarbeitete die als plötzlicher Einfall auftauchende Vorstellung zu einer Aeusserung der Befriedigung, die immer rasch und sicher genug Lügen gestraft wurde. Frau Cäcilie, eine hochintelligente Dame, der ich auch viel Förderung im Verständniss hysterischer Symptome verdanke, machte mich selbst darauf aufmerksam, dass solche Vorkommnisse Anlass zum bekannten Aberglauben des Beschreiens und Berufens gegeben haben mögen. Man soll sich keines Glückes rühmen, andererseits auch den Teufel nicht an die Wand malen, sonst kommt er. Eigentlich rühmt man sich des Glückes erst dann, wenn das Unglück schon lauert, und man fasst die Ahnung in die Form des Rühmens, weil hier der Inhalt der Reminiscenz früher auftaucht als die dazu gehörige Empfindung, weil im Bewusstsein also ein erfreulicher Contrast vorhanden ist.
  25. Archives de Neurologie, Nr. 77, 1893.
  26. Ich könnte hier den Eindruck erwecken, als legte ich den Details der Symptome zuviel Gewicht bei und verlöre mich in überflüssige Zeichendeuterei. Allein ich habe gelernt, dass die Determinirung der hysterischen Symptome wirklich bis in deren feinste Ausführung hinabreicht, und dass man ihnen nicht leicht zuviel Sinn unterlegen kann. Ich will ein Beispiel beibringen, das mich rechtfertigen wird. Vor Monaten behandelte ich ein 18jähriges Mädchen aus belasteter Familie, an dessen complicirter Neurose die Hysterie ihren gebührenden Antheil hatte. Das erste, was ich von ihr erfuhr, war die Klage über Anfälle von Verzweiflung mit zweierlei Inhalt. Bei den einen verspürte sie ein Ziehen und Prickeln in der unteren Gesichtspartie von den Wangen herab gegen den Mund; bei den anderen streckten sich die Zehen an beiden Füssen krampfhaft und spielten ruhelos hin und her. Ich war anfangs auch nicht geneigt, diesen Details viel Bedeutung beizumessen, und früheren Bearbeitern der Hysterie wäre es sicherlich nahe gelegen, in diesen Erscheinungen Beweise für die Reizung corticaler Centren beim hysterischen Anfall zu erblicken. Wo die Centren für solche Parästhesien liegen, wissen wir zwar nicht, es ist aber bekannt, dass solche Parästhesien die partielle Epilepsie einleiten und die sensorische Epilepsie Charcot’s ausmachen. Für die Zehenbewegungen wären symmetrische Rindenstellen in nächster Nähe der Medianspalte verantwortlich zu machen. Allein es klärte sich anders. Als ich mit dem Mädchen besser bekannt worden war, fragte ich sie einmal directe, was für Gedanken ihr bei solchen Anfällen kämen; sie solle sich nicht geniren, sie müsste wohl eine Erklärung für die beiden Erscheinungen geben können. Die Kranke wurde roth vor Scham und liess sich endlich ohne Hypnose zu folgenden Aufklärungen bewegen, deren Beziehung auf die Wirklichkeit von ihrer anwesenden Gesellschafterin [80] vollinhaltlich bestätigt wurde. Sie hatte vom Eintritt der Menses an durch Jahre an der Cephalaea adolescentium gelitten, die ihr jede anhaltende Beschäftigung unmöglich machte und sie in ihrer Ausbildung unterbrach. Endlich von diesem Hinderniss befreit, beschloss das ehrgeizige und etwas einfältige Kind, mächtig an sich zu arbeiten, um seine Schwestern und Altersgenossinnen wieder einzuholen. Dabei strengte sie sich über jedes Maass an, und eine solche Bemühung endete gewöhnlich mit einem Ausbruch von Verzweiflung darüber, dass sie ihre Kräfte überschätzt habe. Natürlich pflegte sie sich auch körperlich mit anderen Mädchen zu vergleichen und unglücklich zu sein, wenn sie an sich einen körperlichen Nachtheil entdeckt hatte. Ihr (ganz deutlicher) Prognathismus begann sie zu kränken, und sie kam auf die Idee, ihn zu corrigiren, indem sie sich Viertelstunden lang darin übte, die Oberlippe über die vorstehenden Zähne herabzuziehen. Die Erfolglosigkeit dieser kindischen Bemühung führte einmal zu einem Ausbruch von Verzweiflung, und von da an war Ziehen und Prickeln von der Wange nach abwärts als Inhalt der einen Art von Anfällen gegeben. – Nicht minder durchsichtig war die Determinirung der anderen Anfälle mit dem motorischen Symptom der Zehenstreckung und Zehenunruhe. Es war mir angegeben worden, dass der erste solche Anfall nach einer Partie auf den Schafberg bei Ischl aufgetreten sei, und die Angehörigen waren natürlich geneigt, ihn von Ueberanstrengung abzuleiten. Das Mädchen berichtete aber Folgendes: Es sei ein unter den Geschwistern beliebtes Thema gegenseitiger Neckerei, einander auf ihre (unleugbar) grossen Füsse aufmerksam zu machen. Unsere Patientin, seit langer Zeit über diesen Schönheitsfehler unglücklich, versuchte ihren Fuss in die engsten Stiefel zu zwängen, allein der aufmerksame Papa litt dies nicht und sorgte dafür, dass sie nur bequeme Fussbekleidung trug. Sie war recht unzufrieden mit dieser Verfügung, dachte immer daran und gewöhnte sich, mit den Zehen im Schuh zu spielen, wie man es thut, wenn man abmessen will, ob der Schuh um vieles zu gross ist, einen wieviel kleineren Schuh man vertragen könnte u. dgl. Während der Bergpartie auf den Schafberg, die sie gar nicht anstrengend fand, war natürlich wieder Gelegenheit, sich bei den verkürzten Röcken mit dem Schuhwerk zu beschäftigen. Eine ihrer Schwestern sagte ihr unterwegs: „Du hast aber heute besonders grosse Schuhe angezogen.“ Sie probirte mit den Zehen zu spielen; es kam ihr auch so vor. Die Aufregung über die unglücklich grossen Füsse verliess sie nicht mehr, und als sie nach Hause kamen, brach der erste Anfall los, in dem als Erinnerungssymbol für den ganzen verstimmenden Gedankengang die Zehen krampften und sich unwillkürlich bewegten.
    Ich bemerke, dass es sich hier um Anfalls- und nicht um Dauersymptome handelt; ferner füge ich hinzu, dass nach dieser Beichte die Anfälle der ersten Art aufhörten, die der zweiten mit Zehenunruhe sich fortsetzten. Es musste also wohl noch ein Stück dabei sein, das nicht gebeichtet wurde.
    Nachschrift: Ich habe später auch diess erfahren. Das thörichte Mädchen arbeitete darum so übereifrig an seiner Verschönerung, weil es – einem jungen Vetter gefallen wollte.
  27. Von diesem interessanten Gegensatze zwischen dem weitestgehenden somnambulen Gehorsam in allen anderen Stücken und der hartnäckigsten Beständigkeit der Krankheitssymptome, weil letztere tief begründet und der Analyse unzugänglich sind, habe ich mir in einem anderen Falle einen tiefen Eindruck geholt. Ich behandelte ein junges, lebhaftes und begabtes Mädchen, das seit 1½ Jahren mit schwerer Gangstörung behaftet war, durch länger als 5 Monate, ohne ihr helfen zu können. Das Mädchen hatte Analgesie und schmerzhafte Stellen an beiden Beinen, rapiden Tremor an den Händen, ging vorgebeugt mit schweren Beinen, kleinen Schritten und schwankte wie cerebellar, fiel auch öfters hin. Ihre Stimmung war eine auffällig heitere. Eine unserer damaligen Wiener Autoritäten hatte sieh durch diesen Symptomcomplex zur Diagnose einer multiplen Sclerose verleiten lassen, ein anderer Fachmann erkannte die Hysterie, für die auch die complicirtere Gestaltung des Krankheitsbildes zu Beginn der Erkrankung sprach (Schmerzen, Ohnmächten, Amaurose), und wies mir die Behandlung der Kranken zu. Ich versuchte ihren Gang durch hypnotische Suggestion, Behandlung der Beine in der Hypnose etc. zu bessern, aber ohne jeden Erfolg, obwohl sie eine ausgezeichnete Somnambule war. Eines Tages, als sie wieder in’s Zimmer geschwankt kam, den einen Arm auf den ihres Vaters, den anderen auf einen Regenschirm gestützt, dessen Spitze bereits stark abgerieben war, wurde ich ungeduldig und schrie sie in der Hypnose an: „Das ist jetzt die längste Zeit so gewesen. Morgen Vormittag wird schon der Schirm da in der Hand zerbrechen, und Sie werden ohne Schirm nach Hause gehen müssen, von da an werden Sie keinen Schirm mehr brauchen.“ Ich weiss nicht, wie ich zu der Dummheit kam, eine Suggestion an einen Regenschirm zu richten; ich schämte mich nachträglich und ahnte nicht, dass meine kluge Patientin meine Rettung vor dem Vater, der Arzt war und den Hypnosen beiwohnte, übernehmen würde. Am nächsten Tage erzählte mir der Vater: „Wissen Sie, was sie gestern gethan hat? Wir gehen auf der Ringstrasse spazieren; plötzlich wird sie ausgelassen lustig und fängt an – mitten auf der Strasse – zu singen: Ein freies Leben führen wir, schlägt dazu den Takt mit dem [86] Schirm gegen das Pflaster und zerbricht den Schirm.“ Sie hatte natürlich keine Ahnung davon, dass sie selbst mit soviel Witz eine unsinnige Suggestion in eine glänzend gelungene verwandelt hatte. Als ihr Zustand auf Versicherung, Gebot und Behandlung in der Hypnose sich nicht besserte, wandte ich mich an die psychische Analyse und verlangte zu wissen, welche Gemüthsbewegung dem Ausbruch des Leidens vorhergegangen war. Sie erzählte jetzt (in der Hypnose, aber ohne alle Erregung), dass kurz vorher ein junger Verwandter gestorben sei, als dessen Verlobte sie sich seit langen Jahren betrachtet habe. Diese Mittheilung änderte aber gar nichts an ihrem Zustand; in dir nächsten Hypnose sagte ich ihr demnach, ich sei ganz überzeugt, der Tod des Vetters habe mit ihrem Zustand nichts zu thun, es sei etwas anderes vorgefallen, was sie nicht erwähnt habe. Nun liess sie sich zu einer einzigen Andeutung hinreissen, aber kaum dass sie ein Wort gesagt hatte, verstummte sie, und der alte Vater, der hinter ihr sass, begann bitterlich zu schluchzen. Ich drang natürlich nicht weiter in die Kranke, bekam sie aber auch nicht wieder zu Gesichte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: dss
Beobachtung I. Frl. Anna O… Nach oben Beobachtung III. Frl. Lucie R…
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